Seit 2015 hat die Rudolf Steiner Schule in Zehlendorf als erste Waldorfschule eine eigene Willkommensklasse. Als Privatschule wäre sie dazu eigentlich nicht verpflichtet. Warum sich die Schule trotzdem für diesen Schritt entschied und wie so eine anthroposophische Willkommensklasse funktioniert, verrät unser Praktikant, Daniel Weidmann, in seinem Kommentar.

Die Willkommensklasse der Rudolph Steiner Schule
Foto: Weidmann

Als ich im Jahr 2015 mein Abitur an der Rudolf Steiner Schule gemacht habe, hat die anthroposophische Schule als erste Waldorfschule eine eigene Willkommensklasse eröffnet. Seither wird dort für 16 geflüchtete Kindern vor allem Deutsch unterrichtet, sie werden aber auch Schritt für Schritt in die regulären Klassen integriert. Während meiner ausklingenden Schulzeit habe ich von der neuen Klasse nicht viel mitbekommen. Ich wusste zwar, dass es sie gibt, doch wie funktioniert eine Willkommensklasse – gerade an einer anthroposophischen Schule? Geht das schuleigene Konzept auf? Sind die Kinder motiviert? Diesen und weiteren Fragen wollte ich einmal auf den Grund gehen und entschied mich, die Klasse zu besuchen.

Ich fahre also nach Dahlem, vorbei an Villen, dem Gebäudekomplex 5 Morgen und dem Alliierten Museum. Auf dem Schulhof der zweizügigen Schule ist wie immer viel los, es wird gelacht und gespielt. Als ich das alte Hauptgebäude betrete und in den zweiten Stock laufe, ist dort der kleine Klassenraum. Ungefähr acht Kinder und ein Lehrer finden in dem Zimmer Platz.

„Warum ist Essen wichtig?“, fragt die Deutschlehrerin Conny Bergengrün. „Essen ist wichtig, weil man gesund werden kann.“, antwortet ein Schüler. Danach die Gegenfrage: „Warum ist Essen nicht wichtig?“ Mit dieser Übung wird natürlich in erster Linie korrektes Sprechen geübt. Erst der Hauptsatz, dann der erste Nebensatz und so weiter. Dabei ist für die meisten Schüler das größte Problem, das Verb des Nebensatzes ans Ende zu stellen. Neben der reinen Grammatik ist es Bergengrün aber auch wichtig, dass ihre Schüler die Dinge immer von beiden Seiten betrachten.

Um sich gut auf die sogenannte B1 Prüfung vorzubereiten, führen die Schüler anschließend Interviews. Die B1 Prüfung ist ein Deutsch-Test für Immigranten, den die Schüler der Steiner Schule natürlich alle bestehen wollen. Diese Interviews sind Teil der Prüfung: Zwei Minuten lang müssen die Schüler alleine über ihre Herkunft, Sprache, ihre Familie, ihre Zukunft und vieles mehr erzählen. Anschließend dürfen Fragen gestellt werden.

Während diesen „Übungsinterviews“ konnte ich viel über die einzelnen Schüler erfahren. Es zeichnet sich vor allem das Bild ab, dass viele die Schule in Deutschland besser finden als die in ihrem Herkunftsland. Eine Schülerin beispielsweise sagt, dass ihre Schule in Libyen viel schwerer gewesen sei und viele die Prüfungen nicht bestanden hätten. Außerdem sei man von den Lehrern auch geschlagen worden. Ein anderes Mädchen, das aus Afghanistan geflohen ist, kann ebenfalls bezeugen, dass die Schule hier leichter und besser ist. Außerdem sei sie hier sehr fröhlich, da man in Deutschland freier und sicherer leben könne. Sie vermisse jedoch Familienangehörige, die in Afghanistan geblieben sind.

Eine große Familie

Während meiner Gespräche mit den Schülern ist mir aufgefallen, wie gut viele von ihnen schon Deutsch sprechen können. Als der Unterricht im September 2015 anfing, beherrschten die meisten Schüler laut Bergengrüns eigentlich gar kein Deutsch. Sie hätten ganz klein angefangen: Durch Zeigen von rechts und links und den Körperteilen konnten sie Stück für Stück ihren Wortschatz erweitern. Jetzt ist das Ziel neben den Sprachprüfungen vor allem ein Schulabschluss.

Die Schüler sind sehr motiviert und es herrscht eine sehr humorvolle, heitere, aber auch konstruktive Atmosphäre. Laut Bergengrün, die von ihren Schülern liebevoll Frau Conny genannt wird, gibt es in einigen anderen Schulen ethnische Streitereien. „Das haben wir überhaupt nicht“, fügt die Lehrerin hinzu. Das bestätigt auch meinen Gesamteindruck, dass hier die Kinder gemeinsam lernen und dabei Spaß haben. Ich treffe auf eine richtige Klassengemeinschaft. „Wir sind alle eine große Familie“, sagt eine 16- jährige Libyerin, umscharrt von vielen anderen Kindern und Jugendlichen.

Derzeit kommen die Schüler der Willkommensklasse aus Russland, Libyen, Burkina Faso, Afghanistan, Syrien und weiteren Ländern. Eine Zeit lang hat Bergengrün Kinder aus sieben Nationen mit sieben unterschiedlichen Sprachen unterrichtet. Einige haben davor schon eine Schule besucht, andere gar nicht. Die Gruppe ist also recht inhomogen, trotzdem liegt ein spezielles Gemeinschaftsgefühl in der Luft. In den Pausen wird auf der sich an den Klassenraum anschließenden Terrasse getobt und gelacht.

Ein langer Weg

„Sie kommen gerne“, betont auch Bergengrün. Doch es war ein langer Prozess, dass die Steiner Schule Geflüchtete aufnehmen durfte. Schulen in freier Trägerschaft sind eigentlich nicht dazu verpflichtet, Willkommensklassen einzurichten. Doch die Dahlemer Waldorfschule entschied sich trotzdem dazu.

Angefangen hat es damit, dass Bergengrün die geflüchteten Kinder aus der damaligen Notunterkunft der Freien Universität mit in den Unterricht genommen hat. Durch den gemeinsamen Unterricht in den Klassen zeigten dann die „regulären“ Schüler soziales Engagement und Bewusstsein, indem sie mit den geflüchteten Kindern gespielt und sie in der Notunterkunft besucht haben. Das wiederum ließ deren Eltern aufhorchen, die ebenfalls Initiative zeigten. Um Integration zu ermöglichen, entwickelte die Schule ihr eigenes Konzept einer Willkommensklasse. Demnach sollen die Kinder zwar die Willkommensklasse besuchen, trotzdem aber Schritt für Schritt mehr in den regulären Unterricht integriert werden.

Doch die Genehmigung ließ lange auf sich warten. Schlussendlich griff die Schülervertretung ein, forderte eine Gesprächsrunde, an der unter anderem der zuständige Bezirksstadtrat und der Präsident des LAGeSo teilgenommen haben. Das Resultat war, dass Anfang des Schuljahres 2015 die Genehmigung vorlag.

Immer für sie da

Durch die Initiative und das Engagement, mit dem die Eltern, Kinder und Lehrer sich für die Genehmigung eingesetzt haben, ist zu erkennen, dass die Geflüchteten hier willkommen sind. Bergengrün sieht darin auch eine Ursache, warum es so wenige Probleme in der Klasse gibt.

Ein anderer Grund ist die Zuwendung und die Beziehungen, die Bergengrün zu ihren Schülern pflegt: „Man erreicht sie dann eben oft auch nur darüber, dass man praktisch immer wieder für sie da ist.“ Einige Kinder waren anfangs traumatisiert, waren still und zurückgezogen. Doch Bergengrün begegnet ihnen auf einer Vertrauensbasis, macht viele Ausflüge und bringt ihnen gegenseitigen Respekt bei. So galt beispielsweise während des Ramadans ein Essverbot in der Klasse, sodass die Kinder lernten, sich gegenseitig zu akzeptieren. Es gab Zeiten, wo Bergengrün ihre Schüler „über äußere Strenge“ nicht hätte erreichen können.

Das Konzept der Rudolf Steiner Schule Berlin und die Initiative einzelner trägt also Früchte. Einige Schüler kommen noch immer, obwohl sie eigentlich nicht mehr müssten. Andere kommen extra aus Pankow oder Schönefeld, um den Unterricht dieser anthroposophischen Schule besuchen zu können.

Ich habe den Unterricht gut gelaunt verlassen. Ich war beeindruckt, denn ich habe hier eine richtige Klassengemeinschaft getroffen, die zusammen mit der Lehrerin trotz aller Einzelschicksale fröhlich und humorvoll den Alltag bestreitet. Gleichzeitig war die Unterrichtsatmosphäre konstruktiv, intensiv und zielstrebend. Ein Grund dafür ist bestimmt das schuleigene Konzept, das Lernen und Integration gleichzeitig ermöglicht, aber auch die Initiative einzelner trägt zum Gelingen bei. Bestimmt gibt es auch das eine oder andere Problem, doch das Wesentliche ist aus meiner Sicht gegeben: glückliche Schüler und ein soziales Miteinander, wie es in einigen „regulären“ Klassen in dieser Form bestimmt nicht anzutreffen ist.

(dw)