Gerwald Claus-Brunner hofft, viele Zweitstimmen für seine Partei zu sammeln. Foto: Gogol

Das Direktmandat in Steglitz-Zehlendorf wollen am 22. September auch die Piraten erobern. In die Schlacht schicken sie Gerwald Claus-Brunner. Der Kommunikationselektroniker ist seit Oktober 2009 Pirat. Bei der Kommunalwahl vor zwei Jahren zog der 41-Jährige über die Liste in das Berliner Abgeordnetenhaus ein.

StadtrandNachrichten: Die Piraten haben in Berlin ein Personalproblem, können in manchen Bezirksverordnetenversammlungen ihren Aufgaben in den Ausschüssen nicht nachkommen. Nun wollen Sie auch noch das Abgeordnetenhaus in Richtung Bundestag verlassen. Warum?

Gerwald Claus-Brunner: Der Personalmangel ist dadurch entstanden, dass wir, als wir die Listen für die Kommunalwahlen zusammengestellt haben, mit maximal fünf Prozent gerechnet haben. Dafür waren unsere Listen mehr als ausreichend. Als wir dann fast doppelt so viel Prozente hatten, waren manche Listen zu kurz. Dazu, dass ich in den Bundestag will: Ich verlasse Berlin ja nicht, ich bleibe vor Ort. Steglitz-Zehlendorf ist eine CDU-Hochburg. Sollte ich das Weltwunder schaffen und das Direktmandat holen, ist das Problem, mein Mandat im Abgeordnetenhaus nicht mehr auszufüllen, sekundär. Zudem haben wir festgestellt, dass man in einem Bezirk mit Direktkandidat bei den Zweitstimmen etwa einen Prozentpunkt mehr bekommt.

SN: Sie machen Politik im Abgeordnetenhaus, wie halten Sie sich auf dem Laufenden darüber, was im Bezirk passiert?

Claus-Brunner: Ich bin Mitglied in der AWO (Arbeiterwohlfahrt) Steglitz, dann bin ich mit den BVV-Kollegen in Kontakt, ich besuche auch BVV-Sitzungen, wenn ich die Zeit dafür habe. Und wenn man mit wachen Augen durch den Bezirk geht, bekommt man auch selbst einiges mit.

SN: Viele ihrer Gegenkandidaten haben studiert und betreiben oft viel länger Politik als Sie. Sehen Sie das als Vor- oder als Nachteil?

Claus-Brunner: Ich empfinde das eher als Vorteil, weil man nicht als typischer Politiker daher kommt, sondern man wird eher als Mensch wie du und ich empfunden. Abgesehen davon studiere ich selbst Maschinenbau.

SN: Sie sieht man auf den Wahlplakaten mit dem Spruch „Big Brother is watching you“. Die Überwachung im Internet ist das Kernthema der Piraten. Da kommt die NSA-Affäre für Sie genau richtig. Profitieren Sie davon?

Claus-Brunner: Der Slogan „Big Brother is watching you“ ist bei der Mehrheit der Bevölkerung bekannt aus dem Film „1984“. Wir haben den Slogan genutzt, um die Assoziation hervorzurufen und klar zu machen, dass wir dagegen sind. Wir haben schon sehr früh darauf aufmerksam gemacht, wo überall überwacht wird. Das fängt ja schon bei ganz einfachen Sachen an. Etwa bei den Adressen, die im Einwohnermeldeamt hinterlegt sind und an Datenhändler verkauft werden. Wir haben dafür gestimmt, dass das System geändert wird. Dass man dem zustimmen muss, wenn mit der Adresse gehandelt werden darf, statt dem zu widersprechen. Das geht weiter mit dem Internet, denn das vergisst nicht, etwa im Vergleich zum Dorftratsch. Das muss man den Menschen auch ins Bewusstsein rufen. Meine Partei steht auch dafür, dass die Menschen kritisch mit dem Internet umgehen, dass sie überprüfen, wo kommt das her. Ist das eine Primärquelle, was ist eine Sekundärquelle? Dass man auch mal kritisch hinterfragt, wo die Information her kommt und wem die Veröffentlichung von fehlerhaften Informationen nutzt.

SN: Haben Sie das Gefühl, dass durch NSA und Prism ein Bewusstsein dafür in der Bevölkerung gestiegen ist?

Claus-Brunner: Es ist wie eine diffuse Wolke, die über uns schwebt. Im Vergleich dazu: 20 Cent auf den Benzinpreis drauf, das merkt jeder an der Tankstelle, man flucht und ärgert sich. Das ist konkret fassbar. Aber dieses „Ich werde überwacht“ wird erst dann konkret, wenn man die Leute damit konfrontieren würde. Wenn man sich an eine Bushaltestelle hinstellt und die Leute begrüßt: Hallo, Herr Sowieso, Sie wohnen doch da und da. Die Leute also sich damit auseinander setzen müssen, was technisch machbar ist. Die meisten haben eine eigene eingebaute Unschuldsvermutung: Ich kann doch nicht betroffen sein, ich bin doch ein ganz normaler Bürger, der arbeiten geht. Wieso sollten die ausgerechnet mich überwachen? Man schließt es aus, dass das ohne einen Verdachtsmoment möglich wäre. Doch es reicht ein Wort am Telefon oder eine Suche im Internet, und die Maschinen beginnen zu rattern. George Orwells „1984“ ist eigentlich von der Wirklichkeit schon überholt worden.

SN: Doch braucht man manchmal nicht auch Überwachung, etwa bei Terrorgefahr oder bei Kinderpornografie?

Claus-Brunner: Nein, Überwachung hilft uns in diesem Zusammenhang überhaupt nicht. Da braucht es klassische Polizeiarbeit: Wenn ich ein Vergehen verfolgen will, dann verfolge ich das aufgrund von Anhaltspunkten, die der Täter hinterlässt, wie zum Beispiel Fingerabdrücke. Das sind dann forensische Methoden. Observation hingegen ist sehr aufwändig, bringt aber nur wenig Erfolg. Dafür braucht man Gerichtsbeschlüsse. Das ist es auch, was das Datensammeln im Internet so gefährlich macht: Dass dies unabhängig von der Justiz getan wird. Um das zu verdeutlichen: Die E-Mails werden so überwacht, als ob die Bundespost täglich alle normalen Briefe öffnen würde. Denn der elektronische Datenverkehr ist durch kein Gesetz wirklich geschützt. Beim nichtelektronischen Schriftverkehr habe ich das Post- und Fernmeldegeheimnis. Da muss dann ein richterlicher Beschluss erwirkt werden, dass meine Post abgefangen oder mein Telefon abgehört werden darf. Durch die elektronischem Methoden wird dies alles umgangen.

SN: Dass heißt, sie wollen ein neues Gesetz, ähnlich dem Post- und Fernmeldegeheimnis auch für den elektronischen Datenverkehr?

Claus-Brunner: Man muss im Grundgesetz den Artikel 10 ausdehnen. Als das Grundgesetz geschrieben wurde, hat man an solche technischen Möglichkeiten noch gar nicht denken könne, außer vielleicht im Science Fiction-Roman. Aber einfach alle überwachen, halte ich für kontraproduktiv und für irrsinnig. Wer Böses im Schilde führt, kommt auch an diesen ganzen Überwachungen vorbei. Es betrifft eher die normalen Bürger, die dann ihrerseits das Problem haben, dass sie irgendwann beweisen müssen, dass sie nicht böse sind. Die im Grundgesetz verankerte Unschuldsvermutung wird aufgehoben.

SN: Ein zweites Thema der Piraten ist das bedingungslose Grundeinkommen. Wie soll das denn finanziert werden?

Claus-Brunner: Die Finanzierung ist das kleinere Problem. Das kriege ich hin. Ich habe Rüstungsausgaben, die ich nicht brauche, die ganzen Sozialausgaben, die ich jetzt schon habe, und es gibt einen großen Teil Menschen, die sehr viel Einkommen haben, nicht aus Arbeit, sondern aus Kapitalerträgen. Wenn ich die mir heranhole, deckt es die Kosten schon ganz gut ab. Und dann habe ich noch die Möglichkeit, die Tobien-Steuer zu erheben. Auf alle virtuellen Geschäfte – Derivatgeschäfte, Spekulations- und Terminwarengeschäfte – lege ich ein Promille Steuern drauf. Obwohl das nur im Promillebereich ist, kann man damit einen ganz erheblichen Teil Geld herausziehen.

SN: Wenn die Finanzierung das kleinere Problem ist, was ist denn dann das größere?

Claus-Brunner: Das größere Problem ist, die Menschen in ihren Köpfen zu erreichen. Wenn ich ein Grundeinkommen in seiner ursprünglich geplanten Form einsetze, dann ist das heutige Wirtschaftssystem obsolet, und es kommt ein neues System. Darauf muss ich die Menschen geistig vorbereiten. Und so wie ich schreiben lerne, wie ich lesen und rechnen lerne, muss ich dann lernen, wie ich mich in einem solchen System verhalte, in dem es ein Grundeinkommen gibt. Da muss man sich gewisse grundsätzliche Verhaltensweisen aneignen. Zum Beispiel, dass man sich solidarisch verhält, dass man, auch ohne Druck von außen, für andere etwas tut.

SN: Für mich klingt dieses „bedingungslose“ Grundeinkommen ungerecht: Egal ob man sich engagiert oder ob man den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt – jeder bekommt das Gleiche.

Claus-Brunner: Das mag für manchen zunächst einmal ungerecht klingen, ich finde es aber trotzdem gerecht, denn jeder Mensch wird gleich geboren. Jeder, der in Deutschland geboren wird, hat die gleichen Rechte wie jemand, der zwei Straßen weiter zur Welt kommt. Ich möchte mich nicht zum Richter aufspielen und die Menschen in unterschiedlichen Gruppen einordnen. Sondern ich behandele die Menschen gleich. Ich verdeutliche das Grundeinkommen mal am Beispiel der Firma, in der ich arbeite. Wir haben 50 Mitarbeiter, darunter gibt es zwei bis drei, die haben gar keine Lust, dort zu arbeiten, die machen Dienst nach Vorschrift, drücken um 16 Uhr ihre Stempeluhr und gehen nach Hause. Auch wenn da noch eine Maschine steht, die gemacht werden muss. Mit einem Grundeinkommen könnten diese Menschen sagen: Das macht mir kein Spaß, ich höre hier auf. Dafür hätte man dann jemanden, der Lust auf die Arbeit hat. Das heißt, die Leute, die keine Lust haben, gehen fort und die, die da bleiben, sind mit Herz und Seele dabei. Das macht eine Firma produktiver.

SN: Und was machen die, die ohne Arbeit zu Hause sitzen?

Claus-Brunner: Der, der dann zu Hause sitzt, hat vielleicht eine Idee, die sich heute nicht umsetzen lässt, weil er arbeiten gehen muss. Der nimmt sich dann die Zeit und schreibt vielleicht ein Buch oder erfindet etwas. Das Potenzial, das dadurch frei wird, dass Menschen aus der Erwerbsarbeit herausgenommen werden, ist überhaupt nicht abschätzbar. Man gibt Millionen Menschen Freiheit. Das Prinzip der Erwerbsarbeit brauchen wir auch nicht mehr. Wir haben uns seit Generationen darauf hinbewegt, dass immer weniger Menschen arbeiten müssen, um das, was man braucht zu erwirtschaften. Es wurde daraufhin gearbeitet, möglichst viel zu automatisieren, produktiver zu werden. Das Gegenmodell des Grundeinkommens ist die Vollbeschäftigung. Das ist gar nicht mehr umsetzbar. Dann müsste wir Autobahnen wieder mit Schubkarre, Schippen und Schaufeln bauen.

SN: Aber trotzdem haben ja alle das Gleiche. Das klingt sehr sozialistisch.

Claus-Brunner: Das Grundeinkommen ist ja nur eine Basis. Jeder würde, zum Beispiel, monatlich 1.000 Euro bekommen. Das ist ja nicht besonders viel. Da zahlt man seine Miete, kauft sein Essen – dann ist schon der größte Teil weg. Dann kommt noch der BVG-Schein dazu … Wenn man aber ein Auto fahren will oder in den Urlaub verreisen will, da braucht man mehr Geld. Wer also mehr als nur das Minimum – und ein Grundeinkommen kann nur ein Minimum sein – haben will, muss gucken, wie er mehr Geld dazu bekommt.

SN: Sie sagten BVG-Schein. Den braucht man aber nicht mehr, wenn es nach den Piraten geht. Dann sollen die Fahrten kostenlos sein. Doch die Verkehrsbetriebe haben jetzt schon Probleme mit den Finanzen. Wie soll es denn weitergehen, wenn niemand mehr einen Fahrschein kaufen muss? Ist das nicht der Tod der BVG?

Claus-Brunner: Wir zahlen schon genug dafür. Man muss nur im Haushalt nachschauen. Die BVG bekommt etwas mehr als die Hälfte der Zuschüsse aus der Steuerkasse allein dafür, dass sie den Betrieb laufen lässt. Nun sagen ich und meine Partei, wir schaffen den Fahrschein ganz ab. Die andere Hälfte kriegen wir auch noch finanziert. 70 Prozent, der Menschen, die täglich pendeln, fahren mit der BVG, die restlichen 30 Prozent mit dem Auto. Ich werde bestimmt nicht alle 100 Prozent kriegen, aber wenn ich von den 30 Prozent die Hälfte dazu bewege, auf den Nahverkehr umzusteigen, dann sind auch die Straßen entlastet, wir haben keinen Stau. So ein Stau ist auch ein volkswirtschaftlicher Faktor und kostet Lebenszeit. Ich kann nicht sagen, ich habe kein Geld für die BVG, sondern muss es im Gesamtzusammenhang betrachten. Auch die Verfolgung der Schwarzfahrer fällt weg. Der juristische Teil und die Unterbringung im Gefängnis kosten auch viel Geld.

SN: Mal weg vom Wahlprogramm: Sie fallen immer durch ihren Kleidungsstil auf, die Latzhose und das Palästinensertuch auf dem Kopf. Steht dahinter eine Botschaft, soll dies etwas symbolisieren?

Claus-Brunner: Eine konkrete Aussage ist dahinter nicht verborgen. Die Latzhose ist ein praktisches Kleidungsstück. Was ich in meine Taschen reintun kann, dafür brauchen andere eine Handtasche. Das Kopftuch kommt aus einer Zeit, in der ich in Israel gearbeitet habe. Da hat mir meine Gastfamilie ein Kopftuch geschenkt. Das ist bei denen eine ganz alltägliche Kopfbedeckung, so wie man bei uns vor 50 Jahren einen Hut getragen hat. Man kann da politische Aussagen hinein interpretieren, das möchte ich aber nicht.

(sn)