Was ist der Unterschied zwischen Neukölln und Zehlendorf? Nun, in Neukölln rechnet man von vornherein damit, dass sich viele nicht an Regeln des bürgerlichen Zusammenlebens halten. Zehlendorf, vor allem der als recht nobel geltende Ortsteil Schlachtensee, hat demgegenüber ein anderes Image, aber in weiten Teilen herrscht eben auch Anarchie. Dass die Liegewiese gegenüber dem S-Bahnhof vor allem nach lauen Sommernächten wie eine Mülldeponie aussieht, gilt inzwischen als eine Art Naturgesetz. Immerhin scheint sich bei den jungen Leuten die Emanzipation zunehmend durchzusetzen. Die Mädchen saufen fast wie die Jungen. Die im Umfeld der nächtlichen Open-Air-Partys offenbar unumgänglichen Schmierereien und Sachbeschädigungen scheinen aber doch noch immer eine Domäne der männlichen Jugend zu sein. Klugerweise hat man bei der S-Bahn inzwischen darauf verzichtet, jede Woche aufs Neue den Glaser zu bestellen. Natürlich sieht der spiegelnde, aber undurchsichtige Kunststoff nicht ganz so originalgetreu aus.

Das Ignorieren von Ordnungsregeln ist allerdings keine Domäne der Jugend. Viele Hundebesitzer beispielsweise, und davon gibt es in Schlachtensee nicht wenige, nehmen sich rund um den See praktisch jede Freiheit. Wozu ins Hundeauslaufgebiet gehen, das ohnehin schon einen großen Teil des Grunewalds einnimmt? Leinenzwang? Gutsituierte Herrschen und Frauchen zucken allenfalls mit der Schulter, wenn man sie darauf anspricht. Bei anderen kann man schon mit dem Stinkefinger rechnen. Ordnungsamt? Was ist das?

Dass die chaotische Verkehrsführung um das neue Einkaufszentrum an der Breisgauer Straße die Radfahrer auf den Bürgersteig lockt, war fast zu vermuten. Als mir neulich eine junge Frau vor der Sparkasse über den Fuß fuhr, beschwerte sie sich mit den Worten, ich hätte ja wohl gesehen, dass sie da lang fahren würde.

Offenbar gibt es auch viele Gehbehinderte in der Gegend. Auf den Parkplatz zwischen REWE und Aldi zu fahren, ist vielen wohl zu umständlich, die mal eben Brötchen einkaufen oder Geld ziehen wollen. Das Parken in zweiter Reihe, das schon die Liefer- und Bauwagen notgedrungen praktizieren, schafft immer wieder spannende Situationen, bei denen es mitunter weder vor noch zurück geht. Manchmal hat das hohen Unterhaltungswert. Polizei? Habe ich auch schon mal gesehen. Ein Beamter, den ich auf die fehlende Präsenz der Ordnungshüter hinwies, drückte sein Bedauern aus. Gern würde man viel dichter am Bürger sein, aber die umfangreichen bürokratischen Aufgaben ließen das nicht zu. So tummeln sich die Männer und Frauen in den blauen Uniformen eben vorwiegend auf ihrem Abschnitt. Dabei müssten sie in Schlachtensee und Nikolassee noch nicht mal Parkgebühren entrichten.

Inzwischen dürfte längst klar sein, dass es sich bei dem Schreiber dieser Zeilen um einen alten Meckerkopf handelt, der das Wesen des urbanen Lebens offensichtlich verkennt. Arm, sexy und etwas verkommen, so ist nun mal die Hauptstadt. Und auch wenn es Zehlendorf heißt, sind wir schon lange kein Dorf mehr. Und wenn es mir nicht passt, dann kann ich ja wegziehen. Vielleicht nach Neukölln. Dort wüsste ich, dass es keinen Sinn hätte, sich unnötigerweise über etwas aufzuregen, das, wie es scheint, ohnehin nicht mehr zu ändern ist.

Stanley Schmidt

Stanley Schmidt ist Redakteur im Programmbereich Sport des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) und Zehlendorfer.