Dr. Marianne Suhr las im Wrangelschlösschen aus ihrem Roman "Roter Milan". Foto: Gogol

Am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit hatte die Bürgerstiftung Steglitz-Zehlendorf zu einer Lesung eingeladen. „Roter Milan“ heißt das Buch, aus dem Autorin Dr. Marianne Suhr vorlas. Es ist die Geschichte zweier Frauen, die eine Zeit lang als Kinder befreundet sind, sich aus den Augen verlieren und sich wiederfinden – und das vor dem Hintergrund der Mauer und der Wende 1989. Es ist aber auch eine Geschichte über das Leben mit der Mauer, ein Bild der Insel West-Berlin und der Angst vor Veränderung.

Es sei keine Autobiografie, sagte Dr. Suhr, doch habe sie einer ihrer Protagonistin, Karin Beute, viel von sich selbst eingeschrieben: Groß geworden in einem havelländischen Dorf, dann mit 18 Jahren nach West-Berlin geflüchtet. Ihre eigenen Gedanken und Gefühle habe sie verarbeitet, aber genauso die vieler anderen Frauen und Männern ihrer Generation, mit denen sie sich unterhalten hat.

Das Buch versuche, „einen weißen Fleck zu füllen“, sagte René Rögner-Francke, der Vorsitzende der Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf und an diesem Abend Gesprächspartner der Autorin. Das Buch mache „über persönliche Erfahrungen Geschichte erlebbar“, sagte er. Und so habe er sich in vielen Stellen des Buches wiedergefunden.

Suhr beschriebt die Situation am Grenzübergang, wenn sie ihre Mutter in der DDR besuchen wollte. Die Fragen der Grenzbeamten, ob man Kinder dabei habe, obwohl man alleine im Auto saß; dass sie zwei Stunden an der Grenze warten musste, weil sie sechs Zwiebeln mit über die Grenze nehmen wollte, die die Beamten dann konfiszierten.

Doch eigentlich beginnt die Geschichte viel früher, im havelländischen Dorf. Karin Beute erinnert sich an den Schulbesuch, wo es reichte zu wissen, dass sich die Gesellschaft vom Kapitalismus, über den Sozialismus zum Kommunismus entwickeln werde. Sie erinnert sich an das gute Gefühl „auf der richtigen Seite zu sein“. Und daran, dass sie als Kind alles hatte, was sie brauchte. Dass ihr etwas fehlte, stellte sie erst später fest.

Stellenweise ist das Buch eine Liebeserklärung an das „alte“ West-Berlin, wenn Karin Beute das Panorama beschreibt oder versonnen durch das KaDeWe schlendert. Doch in den Gesprächen wurde auch deutlich, das dieser Teil der Stadt ein Kuriosum war – oder wie Suhr sagte „ein sehr hübsches Kunstgebilde“. Einwohner hatten nur einen „behelfsmäßigen Personalausweis“. Um einen Reisepass zu beantragen, musste man nach Westdeutschland fahren. Viele Westdeutsche hatten sogar Angst nach West-Berlin zu kommen, aus Angst, die „Russen“ könnten über die Mauer kommen, erzählte die Autorin aus eigenem Erleben. Sie habe den Westteil der Stadt immer als etwas Besonderes erlebt. „man konnte ganz geruhsam hinter der Mauer leben“, so ihre Erfahrung. Denn die Mauer sei auch immer eine Art Schutz gewesen. Sie habe nie wieder so sorglos mitten in der Nacht öffentliche Verkehrsmittel benutzt wie damals, als die Mauer noch stand, berichtete Dr. Suhr. Man sei auch immer etwas Besonderes gewesen, als West-Berliner. Und die Angst davor, dieses Besondere zu verlieren, aber auch, dass die, wegen denen man die DDR verlassen hat, nun dort hinkommen könnten – diese Angst legte Dr. Suhr auch ihrer Protagonistin Karin Beute in den Mund als die Mauer wankt. Auch die Angst vor einer „Verostung“ – versinnbildlicht in Alpenveilchen und Raffgardine – habe sie in Gesprächen ausmachen können, erzählte die Autorin.

„Nun ist es mit der Bequemlichkeit vorbei“ – dieser Satz, der galt nach der Wende sowohl für Ostdeutschland als auch für West-Berlin.

Die Zeiten hätten sich seitdem sehr verändert – heute könne man Ost- und Westdeutsche kaum noch unterscheiden: nicht an der Kleidung, nicht am Smartphone und anderen technischen Geräten. Heute gebe es nur noch einen Wert, so die Autorin kritisch: Geld. „Doch Geld macht nicht gemeinsam“. Auch wenn sie sich die Zeit nicht zurück wünsche, einen Vorteil habe die ideologische Abgrenzung gehabt: „Man redete auch über anderes“.

Vor 20 Jahren habe sie angefangen, ihre Erinnerungen niederzuschreiben, so Suhr, dann wollte sie es ruhen lassen. Aber darüber zu schreiben und darüber zu reden habe sie befreit.

(go)