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Schätzungsweise 37.000 Jugendliche sind in Deutschland wohnungs- oder obdachlos. Die Gründe, warum sie ihr Zuhause verlieren, können so vielfältig sein wie die alltäglichen Herausforderungen auf der Straße. In Berlin gibt es durchaus Hilfsangebote, trotzdem ist der Weg aus der Obdachlosigkeit kein einfacher.

Den grauen Mittwochnachmittag verbringt Smilie auf dem Alexanderplatz. Zusammen mit einer Freundin sitzt der 20- Jährige auf der Treppe am Fernsehturm. Seit zwei Monaten hat er nun ein Zimmer in einem Wohnheim. Er macht seinen Hauptschulabschluss und weiß auch schon, wie es danach weitergehen soll: Er will Sozialassistent werden und sich anschließend zum Sozialarbeiter weiterbilden. Denn er möchte Kindern und Jugendlichen helfen, die obdachlos sind. Bis vor Kurzem lebte Smilie noch selbst auf der Straße.

Und damit war er kein Ausnahmefall. Laut einem 2017 veröffentlichten Forschungsbericht des Deutschen Jugendinstituts, leben in Deutschland schätzungsweise 37.000 Jugendliche, die jünger als 27 und wohnungs- oder obdachlos sind. Etwa 6.500 sind minderjährig.

Warum Jugendliche obdachlos werden

Doch warum landen Jugendliche überhaupt auf der Straße? Darauf weiß der Verein Straßenkinder e. V. eine Antwort. In seinem Jahresbericht 2018 hielt er besonders häufige Ursachen fest. Darunter „körperliche und sexuelle Gewalt im Elternhaus“ sowie ein „Suchtverhalten der Eltern“.

Süchtig war auch Smilies Mutter. Nach Heroin. Zuhause im bayrischen Kempten schlug sie ihn und seine Schwester und verabreichte ihnen Drogen. 5 Jahre war Smilie alt, als die Polizei die Kinder von der Mutter trennte. Doch da war es bereits zu spät. Auch im Kinderheim fand Smilie den Weg zum Dealer und schaffte es, sich den Stoff zu besorgen, unter dem Vorwand, er sei für seine Mutter. Als Smilie 15 war, zahlte die Jugendhilfe auf einmal kein Geld mehr. „Ich bin direkt mit 15 auf die Straße gekommen“, sagt er.

Auch Krystian war bei seiner Familie in Polen mit Gewalt und Sucht konfrontiert. Der Vater war alkoholabhängig und gewalttätig, die Mutter schizophren. Mit 5 Jahren kam Krystian ins Kinderheim und als er 18 wurde, bekam er eine Wohnung. So weit, so gut. In der Schule kam er jedoch mit Drogen in Kontakt und begann, exzessiv zu konsumieren. So verlor er seine Wohnung und kam zunächst beim Freund einer Freundin unter. Da er jedoch weiter Drogen nahm und es nicht schaffte, sich einen Job zu suchen, flog er raus. Nun war die Straße sein Zuhause.

Zwar wurden Smilie und Krystian erst obdachlos als sie aus dem Jugendheim beziehungsweise der Wohnung flogen, dennoch waren es die Sucht und die körperlichen Misshandlungen der Eltern, welche ihnen schon früh ihr erstes Zuhause nahmen – ein Zuhause welches anderen Kindern bis zur Volljährigkeit und darüber hinaus einen Anker bietet.

Wieso aber leben manche Kinder auf der Straße, anstatt beispielsweise in einer Jugendhilfeeinrichtung zu bleiben? „Im optimalen Fall kommen Kinder in eine Hilfeeinrichtung und haben da einen Bezugsbetreuer und werden bis zum Erwachsensein begleitet.“, sagt Vivien Rosen, die bei Straßenkinder e. V. für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Tatsächlich würden jedoch „manche Kinder mehrere Einrichtungen durchlaufen“, da sie z.B. wegen ihres Verhaltens die Wohngruppe verlassen müssen, Zuständigkeiten wechseln oder die Stätte nicht ihren Bedarf erfüllt. „Dadurch erleben sie auch immer wieder Beziehungsabbrüche, die den Hilfeverlauf erschweren“, so Rosen. Das Vertrauen ins System schwinde. Um nicht ständige Veränderungen und dadurch bedingte Enttäuschungen erleben zu müssen und aus Mangel an verlässlichen und stabilen Beziehungen in ihrem Leben, flüchten die Jugendlichen auf die Straße.

Auch Mobbing in Jugendhilfeeinrichtungen kann eine Rolle spielen und laut Rosen mitunter dazu führen, dass sie „den Druck nicht mehr aushalten und auf die Straße flüchten.“

„Frustration über das Jugendhilfesystem“ sowie „Mobbing durch das Elternhaus oder der Jugendhilfeeinrichtung“ sind zwei weitere häufige Gründe für Obdachlosigkeit bei Jugendlichen, welche Straßenkinder e. V. in seinem Jahresbericht angibt.

Das Leben auf der Straße

Nachdem er obdachlos geworden war, dauerte es nicht lange, vielleicht zwei bis drei Wochen, bis Smilie aus Kempten wegging. Mit dem Zug fuhr er schwarz bis nach Berlin, eine Stadt, welche er bereits aus dem Fernsehen kannte. Dagewesen war er noch nie, doch nun lernte er das Straßenleben der Hauptstadt kennen. Am Tag schnorrte er, die Nächte verbrachte er entweder in Notunterkünften oder draußen. Was seine größten Herausforderungen im Straßenalltag gewesen seien? Hitze und Kälte. Wenn das Wetter kalt war, hätte er sich manchmal Erkältungen und auch die Grippe eingefangen. Allgemein habe er schon eine Vielzahl von Erkrankungen gehabt, darunter Krätze, womit man sich auf der Straße schnell anstecke.

Schlimmer als die Kälte sei jedoch die Hitze gewesen. Man komme nicht auf die Beine, die Motivation sei gleich null. Außerdem waren da noch die Nazis. Diese kämen, so Smilie, wie alle Menschen im Sommer öfter aus ihren Häusern. Obdachlose mit einer starken politischen Haltung scheint die Straße einer gewissen Schutzlosigkeit zu überlassen. Smilie bezeichnet sich selbst als linksradikal. Er habe sich mit den Nazis auf Demos geschlagen, sie hätten ihn aber auch auf der Straße angefallen. „Ich saß da mit meinem Antifaschistische-Aktion-Pullover und natürlich passt das denen nicht“, sagt er.

Noch in Polen übernachtete Krystian in Treppenhäusern, im Bus und auf dem Bahnhof. Wenn es warm war, auch draußen. Auf einer Party lernte er jemanden kennen, der aus Berlin nach Polen gekommen war und ihn auf dem Rückweg mitnahm. Krystian erzählt, dass das Leben in Berlin für ihn deutlich einfacher sei. Es gibt Pfandflaschen und von den Menschen bekomme man mehr Geld. Außerdem werde es nicht langweilig. Krystian mag es, Personen aus verschiedenen Kulturen zu treffen, auf Techno- Partys zu gehen und sich die vielen Läden anzuschauen. Zu Beginn seiner Zeit in Berlin schlief er in der S – Bahn sowie am Hauptbahnhof.

Der Weg zurück

Doch wovon hängt es ab, ob Jugendliche den Weg von der Obdachlosigkeit zurück in ein bürgerliches Leben schaffen? Laut Straßensozialarbeiterin Ann- Kathrin Simon von Straßenkinder e. V. kommt es zum einen darauf an, wie lange sie bereits auf der Straße sind. Andererseits seien verschiedene Kinder unterschiedlich widerstandsfähig. Während die einen viel Eigeninitiative zeigten, benötigten andere mehr Hilfe. Dann hänge alles davon ab „welche Hilfen sie bekommen und welche ihnen verwehrt werden“.

Für Krystians Situation war das Verhalten von Einrichtungen, aber auch von Einzelpersonen ausschlaggebend. Am Alexanderplatz lernte er einen Mann und eine Frau kennen, die ihm sehr halfen. Zuerst schauten sie mit ihm einen Film im Kino, dann nahmen sie ihn mit zu sich nach Hause, wo er übernachten konnte. Am nächsten Tag ging es zu Klik.

Klik e. V. ist ein Hilfsverein in Berlin- Mitte. Er unterstützt Menschen, die von Wohnungslosigkeit gefährdet oder bereits wohnungslos sind, und fokussiert sich dabei besonders auf junge Erwachsene zwischen 18 und 26 Jahren sowie auf EU- Binnenmigranten. Diese können sich unter anderem auf Deutsch, Englisch oder auch Polnisch beraten lassen. Außerdem vermittelt Klik weitere Hilfsangebote.

Krystian bekam, wie er erzählt, von Klik die Adresse der Notübernachtung Sleep In, wo er nun die Nächte verbringen kann. Tagsüber schnorrt er, um Geld für einen Pass zu sammeln. Sobald er sein Ziel erreicht hat, will er sich eine Arbeit suchen. Seine Chancen könnten deutlich schlechter aussehen. Denn Drogen nimmt er nicht mehr. Er trinkt nicht und hat einen Schulabschluss.

Sleep In ist eine Einrichtung der Kontakt- und Beratungsstelle (KuB). Die KuB gehört zum Berliner Notdienst Kinderschutz und wird sowohl von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, als auch vom Berliner Jugendclub e. V. getragen. Letzterer stellt auch die beiden VW- Kleinbusse, welche sechs Mal pro Woche verschiedene Orte in Berlin anfahren, an denen sich die Straßenjugendlichen aufhalten. Der Beratungsbus bringt ihnen Essen und Trinken, Hygieneartikeln, Wolldecken oder Schlafsäcke. Streetworker bauen den ersten Kontakt auf und können die Jugendlichen beraten sowie an Hilfseinrichtungen und Behörden vermitteln.

Die Beratungsstelle selbst versucht Kontakt mit den jungen Menschen zu halten, und kann sie entweder an das Elternhaus oder an die Jugend- beziehungsweise Erwachsenenhilfe weiterleiten. Zum Angebot der KuB gehören weiterhin eine Chatberatung im Internet, ein Kunstprojekt mit Künstlern des Vereins The Hub e. V., ein Theaterprojekt sowie Essenangebote in der Beratungsstelle.

Auch der bereits erwähnte Verein Straßenkinder e. V. kümmert sich um obdachlose Kinder und Jugendliche und versucht durch präventive Arbeit zu verhindern, dass Kinder überhaupt auf die Straße geraten. Letzteres geschieht im Kinder- und Jugendhaus BOLLE in Marzahn. Damit Kinder aus sozialschwachen Strukturen ausbrechen können, ist hier Bildung großgeschrieben. Mithilfe von Pädagogen und ehrenamtlichen Helfern können die Kinder in Ruhe ihre Hausaufgaben machen. Es gibt Bildungsräume voll mit Büchern, Computern und Lernspielen. Es gibt sportliche, musikalische und kreative Angebote sowie ein warmes Mittagessen.

Der Verein hilft außerdem jenen Jugendlichen, die bereits auf der Straße leben. Dies geschieht einerseits durch Streetworking, andererseits an zwei Anlaufstellen in Berlin Friedrichshain. Weiterhin möchte der Verein das Straßenkinderhaus „Butze“ entstehen lassen, in dem es unter anderem Räume für betreutes Wohnen geben soll. Schirmherrin für das Projekt ist Dr. Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Nicht immer ist es möglich, die Jugendlichen durch Hilfsangebote zu erreichen. Laut Alexandra Haberecht von der KuB sei es aufgrund der Berliner Wohnungssituation schwierig, genügend Wohnraum für die Jugendlichen zu schaffen. Außerdem seien da noch jene Jugendliche, die lieber auf der Straße bleiben wollen, sei es aus Freiheitsdrang oder aufgrund von schlechten Vorerfahrungen. Andere kämen bei Freunden unter und seien schwer durch Statistiken zu erfassen. Weiterhin komme es vor, dass das Jugendamt Entscheidungen treffe, die den Wünschen der oder des Jugendlichen vollkommen widersprechen.

(mh)