Stell Dir vor: Es ist Streik und keiner kriegt´s mit.

Stell Dir vor: Es ist Streik und keiner kriegt´s mit.

Krankenhausgang, Foto: Lotte Kobel

 

Wir leben in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Das wissen wir. Eigentlich. Und doch: Über das Altern spricht man nicht gern. Vor allem nicht, wenn es mit Krankheit einhergeht und den Verlust von Unabhängigkeit bedeute oder wenn Pflegebedarf entsteht. Pflege ist allerdings ist längst Mangelware. Ein Umstand, der uns alle betrifft, aber nur wenige rührt.

Vom Rauschen im Blätterwald

Am 08. Oktober ließen sich morgens auf Tagesspiegel online zwei Artikel finden: Am Vortag habe es einen Durchbruch im Tarifkampf an der Charité gegeben1; Inge Deutschkron, Ehrenbürgerin der Stadt Berlin, werde in dem Heim, in dem sie lebe, nicht ausreichend versorgt, ihr Gesundheitszustand sei kritisch.2

Am Abend sind beide Artikel schon weggerutscht. Stattdessen liegt auf Platz drei der meistgelesenen Artikel jener, der auf dem Interview basiert, das Jan-Josef-Liefers kurz zuvor einem Redakteur von Bild online gab. Der Schauspieler hatte eine Frühschicht lang auf einer mit Covid-Patienten belegten Intensivstation hospitiert. So schnell geht das im Online-Journalismus. (In der Rubrik Essen und Trinken hält sich der Titel „Deutsches Essen – was ist das eigentlich? “ hingegen schon eine gute Woche.)

Die Pressestelle des Verdi Regionalverbands Berlin-Brandenburg veröffentliche mit Beginn des Streiks, der bereits im Mai als Druckmittel angekündigt worden war, die Arbeitgeber jedoch drei Monate lang nicht rührte, eine Kaskade von Mitteilungen.3

Insbesondere der Tagespiegel griff diese auf und berichtete noch engmaschiger über das Geschehen. Aber es blieb ein Rauschen im lokalen Blätterwald: kein Sprung auf die Titelseiten, die Kommentarspalten fast leer.

Was zählt? Worum ging es beim Streik an der Charité?

Man mag denken und einwenden, der Zeitpunkt für einen Streik so kurz vor Bundes- und Landtagswahl sei falsch gewählt gewesen, um für mehr Resonanz zu sorgen. Doch ich fürchte, daran lag es nicht. Vielmehr scheint mir das fehlende Echo symptomatisch: Es zeugt von einem Unbehagen gegenüber strukturellen und existentiellen Fragen.

In den letzten beiden Jahren war in Kommentaren zu Corona oft zu lesen, die Pandemie zeige die gesellschaftlichen Konflikte und Probleme wie unter einem Brennglas. Das mag so sein, aber was nützt das? Wenn Hinschauen zu anstrengend und zu schmerzhaft wird, ist es leichter, den Blick abzuwenden, im Glauben, das Gesehene betreffe die anderen, einen selbst aber nicht.

Worum ging es bei dem Streik an der Charité? Bezeichnenderweise – wie schon 2015 – nicht um Lohnerhöhungen, sondern um die personelle Ausstattung der Pflege und ihre Qualität.

Der Streik an den landeseigenen Vivantes-Kliniken – in der Woche darauf ausgesetzt – hatte einen noch weiteren Rahmen. Er richtete sich zusätzlich gegen die inzwischen gängige Praxis, ganze Arbeitsbereiche in eigens gegründete Tochterfirmen auszulagern, damit die Beschäftigten dort billiger zu entlohnen sind, also nur noch zu Niedriglöhnen arbeiten. Der Gewinn, den die Firmen auf diese Weise machen, wird da die meisten, der dort Arbeitenden „aufstocken“ müssen, im Grunde durch Steuergelder querfinanziert.

Wer zahlt? Von der Ökonomisierung des Gesundheitswesens

Die Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens haben in den letzten zwei Jahrzehnten stetig an „Fahrt aufgenommen“ und zu einer massiven Verdichtung des Arbeitspensums geführt. Maßgeblich für diese Entwicklung war die Einführung einer neuen Vergütungsgrundlage für den stationären Bereich, die ursprünglich für mehr Verteilungsgerechtigkeit sorgen sollte. Stattdessen kam es durch die DRGs (Diagnostic Related Groups), den sog. Fallpauschalen, zu einer folgenreichen Umbewertung.

Medizinische Überlegungen in der Behandlung von Patienten sind seitdem zweitrangig geworden, wirtschaftlichen Vorgaben gewichen. Es gilt das Motto: Zeit ist Geld. Gewusst wie, lässt sich mit bestimmten Krankheiten und Behandlungsmaßnahmen sehr viel verdienen, andere hingegen lohnen nicht; Personal muss möglichst wenig kosten. Ein guter Patient ist eine „schnelle Nummer“, ein schlechter Patient der, der zum „Ladenhüter“ zu werden droht.4

Who cares? Pflege – natürlich Frauensache.

Nach wie vor sind es überwiegend Frauen, die in sozialen Berufen arbeiten; in der Pflege zu 80 Prozent. Sie tun das in Teilzeit. Das sagt – wie auch die schwierige Vereinbarkeit von Beruf und Familie – viel über das festgefügte Verständnis von Geschlechterrollen. Das Sorgen für andere ist darin „Frauenkram“, unattraktiv, unterbezahlt und durch den neudeutschen Begriff der Care-Arbeit nur scheinbar aufgewertet.

Vor diesem Hintergrund wirkt die aus Vorstandskreisen der Charité geäußerte Hoffnung, es würden sich vielleicht doch einige der Teilzeitkräfte entschließen, aufzustocken – ein Lösungsvorschlag, den auch die Agentur für Arbeit in ihrem Bericht zur bundesweiten Situation auf dem „Pflegemarkt“ parat hat – bestenfalls naiv.5

Eine weitere Hoffnung ruht auf einer Ausbildungskampagne. So hat die Charité in dem jetzt als Verhandlungsgrundlage erarbeiteten Eckpunktepapier zugesagt, drei neue Ausbildungsstationen eröffnen und für eine bessere Praxisanleitung sorgen zu wollen. Aber bevor dies geschieht, und die ersten Absolventen zur Verfügung stehen, werden mehrere Jahre vergehen. Unklar auch, ob und wie lange sie nach dem Abschluss bleiben werden.

Im Frühjahr erzählte man mir an einer renommierten Universitätsklinik im strukturschwachen Osten der Republik hinter vorgehaltener Hand, dass in den letzten beiden Jahren kein einziger der im Haus Ausgebildeten das Angebot zur Weiterbeschäftigung angenommen habe. Eine Abstimmung mit den Füßen, die wie das Klatschen ungehört verhallt.

Im Artikel über Inge Deutschkrons hieß es, ihre Freunde seien bemüht, sie in ein Hospiz verlegen zu lassen. Tatsächlich ist der „Pflegeschlüssel“, also die Anzahl der Pflegenden im Verhältnis zu der der Pflegebedürftigen, und damit die Qualität der Pflege dort in der Regel besser. Leider werden sie mit diesem Versuch ins Leere laufen. Denn die Versorgung von Sterbenden und „Lebensmüden“ gilt formal in jedem stationären Rahmen als gesichert. Eine Verlegung „auf Wunsch“ wird damit verwehrt.

Auch darüber wird öffentlich nicht gesprochen. Ich weiß es von einer Freundin, deren Vater im letzten Herbst starb.

Wir bleiben dran. In der Kolumne „Who cares?“ werden wir von nun an in loser Folge Artikel veröffentlichen, in denen es um die Handelnden und die Behandelten in unserem Gesundheitssystems geht.

 

Mit herzlichen Grüßen,
Ihre Lotte Kobel

 


[1] https://www.tagesspiegel.de/berlin/sorge-um-berlins-ehrenbuergerin-inge-deutschkron-freunde-berichten-von-skandaloeser-versorgung-im-heim/27687538.html

[2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/arbeitskampf-in-berlins-landeseigenen-krankenhaeusern-durchbruch-im-tarifstreit-der-charite-pflegekraefte/27685128.html

[3] https://bb.verdi.de/presse/pressemitteilungen

[4] https://www.aerzteblatt.de/archiv/53507/Auswirkungen-der-DRG-Einfuehrung-Die-oekonomische-Logik-wird-zum-Mass-der-Dinge & https://www.aerztezeitung.de/Politik/Klinikaerzte-sehen-Fallpauschalen-System-am-Ende-414042.html

[5] https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Statistiken/Themen-im-Fokus/Berufe/Generische-Publikationen/Altenpflege.pdf?__blob=publicationFile

 

 

 

 

 

 

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