Karoa Missuweit hat ihren Angreifer im Griff. Die 78-Jährige lernt sich zu verteidigen. Foto: Gogol

Karola Missuweit hat ihren Angreifer im Griff. Die 78-Jährige lernt beim DRK in Steglitz sich zu verteidigen. Foto: Gogol

„Nicht mit mir“ ruft Karola Missuweit dem jungen Mann entgegen, der ihr die Handtasche stehlen will. Dann reißt sie die Arme nach oben, um ihn abzuwehren. Schließlich gelingt es ihr, den Angreifer wegzudrücken und ihm einen Schlag gegen den Brustkorb zu versetzen. Gut gemacht – finden nicht nur die neun anderen Seniorinnen, sondern auch Andriy Shevchenko, der die 78-Jährige gerade noch überfallen wollte. Im richtigen Leben ist Schevchenko jedoch kein Räuber, sondern er unterrichtet „Selbstverteidigung für Jedermann“. Ihn hat das DRK Berlin Südwest in die Seniorenfreizeitstätte „Mittenmang“ an der Klingsorstraße engagiert, um ihren Senioren zu zeigen, wie man sich im Fall der Fälle verteidigen kann.

Zehn Frauen zwischen 76 und 89 Jahren hat Schevchenko am Mittwoch vor sich. Nachdem er ihnen eine Woche zuvor gezeigt hat, wie man Konflikten aus dem Weg geht und gefährliche Situationen erkennt, bringt er ihnen nun bei, was zu tun ist, wenn sie dann doch angegriffen werden. Dazu brauche es nicht viel Kraft, erklärt er. Die Senioren müssten die Kraft des Gegeners ausnutzen – und vor allem müssten sie locker bleiben. „Je lockerer ihr seid, desto besser könnt ihr euch verteidigen“, betont er immer wieder. Dass ältere Menschen sich verteidigen, das sorge beim Angreifer meist für Überraschung, das kann man ausnutzen, sagt er als kurz Zweifel aufkommen, ob die Übungen denn etwas nutzen. Er berichtet von zwei Fällen, in denen sich ältere Frauen erfolgreich gegen Räuber beziehungsweise aus Versehen gegen Polizisten zur Wehr gesetzt hätten. Was bei den Damen für Erheiterung sorgt.

Spezielle Übungen für Senioren gibt es nicht, sagt Shevchenko, sie müssten nur länger üben. Bis die Bewegungsabläufe verinnerlicht werden, bis man nicht mehr darüber nachdenken muss, sondern reflexartig reagiert, das bedürfe regelmäßiger Wiederholungen. Seine Schüler bräuchten dafür meist ein halbes Jahr.

Andriy Shevchenko zeigt den Frauen, welche Griffe wirksam sind. Foto: Gogol

Andriy Shevchenko zeigt den Frauen, welche Griffe wirksam sind. Foto: Gogol

Die Idee zu dem Kurs hatte die Projektleiterin für die Seniorenarbeit, Julia Koziar, nachdem es ein paar Übergriffe auf Senioren gegeben hat. „Einige trauten sich nicht mehr auf die Straße. Das schürt die Einsamkeit. Wir mussten was tun“, erinnert sich Koziar. Sie besprach ihre Idee vom Selbstverteidigungskurs  mit den ehrenamtlichen Senioren. Die seien begeistert gewesen.

Zunächst sind es zehn Frauen, die zweimal zwei Stunden kostenlos die Unterweisung erhalten. Und die haben viel Spaß dabei, lachen viel, auch wenn es um ein ernstes Thema geht. Karola Missuweit hat schon Erfahrungen mit Übergriffen machen müssen. Die Seniorin braucht einen Rollator, an dem sie eine Hupe und einen Stock hat. Mit denen hat sie bereits Angreifer verjagt.

Sie gehe abends nicht vor die Haustür, sagt die 78-Jährige, weil sie es nicht muss. Aber es sei auch manchmal beängstigend, etwa wenn das Licht vor der Haustür mal wieder nicht funktioniere. Dann schaue sie sich immer besonders gut um, erzählt Missuweit. Der Kurs gebe ihr Sicherheit, sagt sie. „Warum sollte man als alter Mensch nicht auch so etwas lernen, damit man weiß, wie man sich verteidigt?“, fragt sie. Sie habe viel gelernt, etwa dass sie den Angreifer mit ihrem Rollator wegschieben kann. „Ich würde mich bestimmt wehren“, ist sie sich sicher und ergänzt. „Ich kann gut kratzen“. Und auch Schreien, das zeigt sie im Kurs.

Gemeinsam üben die zehn Frauen, sind mal Täter, mal Opfer. Foto: Gogol

Gemeinsam üben die zehn Frauen, sind mal Täter, mal Opfer. Foto: Gogol

Sie sei eigentlich kein ängstlicher Typ, sagt Christa Geipel. Trotzdem kennt die 76-jährige unangenehmens Situationen, wenn sie abends am S-Bahnhof Mexikoplatz aussteigt und kein Mensch auf der Straße ist oder wenn ihr Jugendliche entgegen kommen. Der Kurs gebe ihr Sicherheit sagt sie und ist zuversichtlich, das etwas hängen bleibt. „Ich fühle mich sicherer, und es macht Spaß“, so Christa Geipel, die so einen Kurs jedem weiterempfehlen würde.

Genauso sieht es auch Ingrid Regel, die regelmäßig in die Freizeitstätte kommt, dort unter anderem auch einen Thai Chi-Kurs besucht. Abends allerdings bleibe sie lieber zu Hause, denn sie fürchtet sich ein wenig, wenn sie alleine auf der Straße ist. Unter anderem auch, weil sie als Siebenjährige von einem Exibitionisten angesprochen wurde. „Das kriegt man nicht raus“, sagt sie. Dass ihr die Übungen zur Selbstverteidigung helfen werden, davon ist sie überzeugt. „Ich glaube, dass es einem im Ernstfall wieder einfällt“. Sie wünscht sie, dass der Kurs fortgesetzt wird. „Es wäre schön, wenn er regelmäßig stattfindet. Dann bleibt man in Übung und lernt Neues dazu“, findet Ingrid Regel. Dieser Wunsch könnte vielleicht sogar in Erfüllung gehen, sagt Koziar. Man denke derzeit über einen wöchentlichen Kurs nach.

Es gehe darum, die Senioren selbstbewusster zu machen, ihnen Sicherheit zu geben und Ängste zunehmen, nicht sie zu „Supermännern“ zu machen, da sind sich Shevchenko und Koziar einig. Und schon gar nicht ginge es darum, sie in falscher Sicherheit zu wiegen. Deshalb zuvor auch die Übungen zur Deeskalation. „Was wir heute hier üben, ist der worst case“, betont Koziar.

Das Training hat auch ein paar andere positive Nebeneffekte. Es hält Kopf und Körper fit, sagt Shevchenko. Es stärke zum einen die Knochen, zum anderen gebe es viele Bewegungen, die gleichzeitig stattfinden und koordiniert werden müssten. Das trainiere den Geist und beuge Alzheimer vor.

(go)