Die Vielfalt der Stralauer Halbinsel

Die Vielfalt der Stralauer Halbinsel

Yvonne Schwarz / Semiramis Photoart

 

 

Industriekultur, Marx-Gedenken und Dorfkirche. Unweit des Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park, das an die Beendigung des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 erinnert, befindet sich die Halbinsel Stralau, auf der einst der Student Karl Marx Ruhe vor der lauten Stadt Berlin suchte.

Heute erinnert noch auf der Höhe Alt-Stralau Nr. 25 eine Freiluftgedenkstätte an den großen Sozialisten, der hier 1837 für ein paar Monate wohnte. Danach zog der spätere Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus in die Alte Jakobstraße. In diese Zeit fällt auch Marx‘ Begegnung mit dem sogenannten Doktorclub, einem Kreis von Junghegelianern, sowohl Dozenten als auch Studenten, die in ihm den Wunsch reifen ließ, statt Jura Philosophie zu studieren. In jene Zeit ist auch seine Auseinandersetzung mit der Philosophie von Immanuel Kant und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu verorten.
Am 1. Oktober 1964 wurde die Freiluftgedenkstätte, die abseits der Monumente auch einen sehr schönen Blick auf die Spree bietet, von der SED eingeweiht.

 

Yvonne Schwarz / Semiramis Photoart

 

Stralauer Fischzug und Stralauer Glashütte

Lange war Stralau vor allem durch den Stralauer Fischzug bekannt. Die Tradition entstand im Jahr 1537, in dem ein Fischerei-Verbot von Ostern bis Bartholomäus (24. August) erlassen wurde. Die Festwoche, mit der das Ende begangen wurde, artete häufig in ein großes Saufgelage aus, bei dem es wiederholt zu Schlägereien kam, so dass sie zeitweilig verboten wurde. Auch Marx wusste in seinen Briefen von jenem Fest zu berichten – die Ausuferungen verschweigend. Die Tradition wurde später noch einmal aufgegriffen, ist aber mittlerweile wieder eingeschlafen, vor allem wegen des Fehlens von Sponsoren.
Stralau hat aber geschichtlich einiges mehr zu bieten als „nur“ Karl Marx und den Fischzug – und das gerät Dank mehrerer Info-Stelen und Gedenktafeln nicht in Vergessenheit, trotz der vielen Neubauten.
Stralau ist auch stolz auf seine Industriekultur. Zu nennen sind die Stralauer Glashütte (Alt-Stralau 63-67), die um 1920 der größte Industriebetrieb auf der Halbinsel war, der heute als Wohnraum genutzte Flaschenturm der Engelhardt-Brauerei, der Palmkern(öl)-Speicher (Am Speicher 11-15) oder die Teppichfabrik Protzen & Sohn (Alt-Stralau 4). Es sind Zeugnisse aus einer Zeit, in der die Halbinsel ein wichtiger Industriestandort war – Anfang des 20. Jahrhunderts. Einige von ihnen dürften sogar zu den wichtigsten Industriedenkmälern Berlins gehören. Deren Schattenseiten werden aber auch nicht verschwiegen. Schräg gegenüber der Marx-Gedenkstätte (Alt-Stralau 46) wird über die „Hüttenhäuser“ informiert, klassische Mietskasernen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, wo die Arbeiterinnen und Arbeiter lebten.

 

Yvonne Schwarz / Semiramis Photoart

 

Durchgangslager für „asoziale“ Jugendliche

Am Haus Nr. 34, der heutigen Thalia-Grundschule, erinnert eine Gedenkstele an das Durchgangslager, das sich hier bis 1989 befand. Hier wurden unangepasste Jugendliche, das heißt solche, die nicht ins Bild des sozialistischen Menschen passten, im Alter von sechs bis 17 Jahren gedrillt, schikaniert und ab ihrem 14. Lebensjahr zur Arbeit gezwungen. Zu den Erziehungsmethoden gehörten hier einst Essensentzug, Prügelstrafe und Isolation. Von hier aus wurden die Jugendlichen dann auf andere Heime in der DDR verteilt. Seit 2016 wird an diesem Ort an jene Verbrechen erinnert – nicht ohne auch den Vergleich mit Westdeutschland zu ziehen, wo zeitweilig ähnliche Methoden angewendet wurden.
Ein weiterer Höhepunkt bei einem Spaziergang durch Stralau ist die Dorfkirche (Tunnelstraße 5-11). Sie gilt als die älteste im Bezirk Friedrichshain und wurde 1464, noch vor der Reformation, erbaut. In den Jahren 2012 bis 2014 wurde sie grundlegend renoviert. Heute beherbergt die Kirche auch eine kleine Ausstellung über die Geschichte der Kirche und der Halbinsel generell. Hinter der Kirche befindet sich ein kleiner Friedhof, der noch gut 50 Jahre älter ist. Hier ruhen unter anderem der Schauspieler Klaus-Peter Thiele (bekannt aus „Die Abenteuer des Werner Holt“), der Kinderbuchautor Fred Rodrian („Das Wolkenschaf“) und der vielfach ausgezeichnete Karikaturist Manfred Bofinger.

 

Yvonne Schwarz / Semiramis Photoart

 

Vergessener Spreetunnel

Der Straßenname Tunnelstraße erinnert an einen etwa 500 Meter langen Straßenbahntunnel, der die Halbinsel von 1899 bis 1932 mit Treptow verband. Firmen wie AEG hatten sich für die unterirdische Linie eingesetzt – einige Jahre bevor die U-Bahn in Berlin ihren Betrieb aufnahm.
Ein Spaziergang über die Stralauer Halbinsel bietet sich also nicht nur wegen der schönen Lage zwischen der Spree und der Rummelsburger Bucht an, sondern gleicht auch einem Gang durch ein Freiluftmuseum, das unterschiedliche Aspekte der Berliner Geschichte beleuchtet. Als Ausgangspunkt bietet sich entweder der S-Bahnhof Treptower Park oder der S-Bahnhof Ostkreuz an.

Fotos: Yvonne Schwarz / Semira Mis Photoart

Weitere Informationen:
www.stralauer-halbinsel.de
www.geschichtspfad-stralau.de

Der Beitrag erschien ursprünglich im Raben Ralf.

 

 

Dr. Maurice Schuhmann
Website: https://www.maurice-schuhmann.de
Autorenseite bei FB: https://www.facebook.com/Dr.phil.Schuhmann
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Anm. d. Red.
Dr. Schuhmann ist promovierter Politikwissenschaftler
und Autor des philosophiegeschichtlichen Städteführers
Geistreiches Berlin und Potsdam“ (Bäßler Verlag 2021).

Der Städteführer ist erhältlich über:
https://www.baesslerverlag.de/p/geistreiches-berlin-und-potsdam

 

 

 

 

 

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