Olaf Timmermann setzte die Schwarzbrille auf und ließ sich von Kathrin Backi die alltäglichen Problem von Sehbehinderten erklären und zeigen. Foto: Gogol

Olaf Timmermann setzte die Schwarzbrille auf und ließ sich von Kathrin Backi die alltäglichen Problem von Sehbehinderten erklären und zeigen. Foto: Gogol

Wie schwierig es sein kann, sich als Mensch mit Sehbehinderung oder Mobilitätseinschränkung im öffentlichen Straßenland und in Gebäuden fortzubewegen, darüber denkt man als Nichtbetroffener kaum nach. Die AG Mobilität und Verkehr lud am Donnerstagnachmittag zum Perspektivenwechsel vor das Rathaus Zehlendorf ein. Dort konnte jeder testen, wie es sich anfühlt, nicht oder nur schlecht sehen zu können oder sich im Rollstuhl fortbewegen zu müssen. Vor allem an die Verwaltungsmitarbeiter der bauenden, planenden und genehmigenden Ämter des Bezirksamtes wandte sich die Aktion „Sei doch mal ich“.

„Wie erlebe ich die Welt aus der Perspektive eines Rollstuhlfahrers, eines Sehbehinderten oder Blinden? Wie bewege ich mich als alter Mensch? Das sollen die Leute in der Verwaltung erfahren“, erklärt Ludwig Torns, Sprecher der AG.“Mit diesen Erfahrungen sollen sie bewusster in die Planung gehen.“

Dazu hat die AG Rollstühle mitgebracht, mit denen der Zugang über die Rampe zum Gebäudeteil E getestet werden konnte, die Tester sollten durch das Rathaus fahren und versuchen, die Türen dort zu öffnen. Zum andern konnte auch auch Brille aufgesetzt werden, die eine Sehbehinderung simulierte, mit dem Langstock ging es dann die Kirchstraße entlang, natürlich unter Aufsicht.

Die Bezirksstadträte Christa Markl-Vieto und Michael Karnetzki lernten das Zehlendorfer Rathaus aus einer neuen Perspektive kennen. Foto: Gogol

Die Bezirksstadträte Christa Markl-Vieto und Michael Karnetzki lernten das Zehlendorfer Rathaus aus einer neuen Perspektive kennen. Foto: Gogol

Mit gutem Beispiel voran gingen die beiden Bezirksstadträte Michael Karnetzki, unter anderem zuständig für Immobilien, und Christa Markl-Vieto, in deren Aufgabengebiet der Tiefbau fällt.

Viel Kraft habe die Fahrt mit dem Rollstuhl gekostet, berichtete Karnetzki. Die größte Herausforderung sei das Öffnen einer Brandschutztür gewesen, deren Automatik defekt ist. Gerade so habe er es aus eigner Kraft geschafft. Bei der Erkundung des Rathauses mit einer Brille, die die Umgebung unscharf erscheinen lässt und blinde Flecken simuliert, habe es ihm geholfen, dass er das Gebäude kennt. „Es war hilfreich, einen anderen Blickwinkel einzunehmen und so Dinge wahrzunehmen, die man sonst nicht beachtet“, stellte er fest. Dazu gehöret auch, dass es nur ein Schild vor dem Eingang zum Gebäudeteil E gibt, das darauf hinweist, dass der rollstuhlgerechte Zugang sich um die Ecke befindet. Vor dem Eingang gibt es zwar ebenfalls eine Rampe, doch die sei viel zu steil und ende an einer verschlossenen Tür.

„Anstrengend“ und „auf einer anderen Geschwindigkeitsebene“, so beschrieb Markl-Vieto ihr Rollstuhl-Erlebnis. Durch den Behinderteneingang am Rathaus sei der Zugang leicht zu meistern gewesen, aber sie habe sich vorgestellt wie das ist, wenn man jemanden besuchen will und plötzlich vor einer Treppe steht. „Man ist verloren.“ Deshalb sei es wichtig, die bezirklichen Gebäude in einen Zustand zu versetzen, die den Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, den Zugang erleichtern. „Für eine zivilisierte Gesellschaft ist das ein Muss“, so Markl-Vieto, die aber auch weiß, wie schwierig es ist, das umzusetzen. Zwar gebe es berlinweit Programme zum behindertengerechten Umbau von Straßen. Doch in den Abteilungen fehlten Mitarbeiter, die die Projekte begleiten können.

Eine, die nicht, einfach nach zehn Minuten die Testbrille abnehmen und dann wieder normal sehen kann, ist Kathrin Backhaus, Mitglied der AG und sehbehindert. Sie erlebt die Situation im Bezirk täglich und findet sie schlecht. Die Übergänge gerade an Kreuzungen müssten besser gekennzeichnet werden, es brauche mehr Fahrstühle, die bestehenden sollten besser instand gehalten werden, Gehwege seien oft zugestellt, Straßenmöbel stünden häufig im Weg, die seien notwendig, müssten aber besser gruppiert werden, führte Backhaus aus. Olaf Timmermann von der Agenda 21 erlebte dann auch selbst, was Backhaus meinte, als er mit Testbrille sich von ihr die Kirchstraße entlang führen ließ. Plötzlich stand in einer Einfahrt ein Auto – und sie auf der Straße, weil es keinen mit dem Langstock tastbaren Übergang zwischen Gehweg und Straße gab. Eine gefährliche Situation.

Auch deshalb setzt sich Backhaus für eine Bordsteinhöhe an Überquerungsstellen von drei Zentimetern ein, weil dieser Absatz mit dem Stock gut ertastet werden kann. Für Rollstuhlfahrer allerdings seien Übergänge ohne Hindernisse besser, weiß Torns. Und so haben die unterschiedlichen Gruppen manchmal auch sich widersprechende Bedürfnisse.

Besondere Zielgruppe für die AG Mobilität und Verkehr sind die Senioren, die sowohl motorisch als auch sinnesmäßig vielfach eingeschränkt sind. Für sie müsse die Stadt umgebaut werden. „Die Leute hier sind später ihre eigenen Senioren“, erklärt Backhaus, warum sich die AG gerade an die Verwaltungsmitarbeiter wendet. Die Resonanz der Zielgruppe allerdings war gering. Nicht alle angesprochenen Ämter sitzen im Rathaus Zehlendorf. Deshalb überlegte Torns, falls es einen zweiten Aktionstag geben sollte, den an einem anderen Standort stattfinden zu lassen.

(go)