In der alten Zehlendorfer Dorfkirche fragten Michael David (links) und Frank Steger (Mitte) Politiker der Bundestagsfraktionen, was sie gegen Armut tun können. Foto Gogol

Ein Jubiläum aber kein Grund zum Feiern hat die Paulusgemeinde Zehlendorf in diesem Jahr. Seit 20 Jahren bietet sie Bedürftigen in den Wintermonaten ein warmes Mittagessen an. Genauso lange gibt es die Tafeln in Deutschland. „Das ist ein Armutszeugnis für unser Land“, findet Frank Steger, Vorsitzender des Berliner Arbeitslosenzentrums evangelischer Kirchenkreise. Er moderierte am Montagabend eine Diskussion zum Thema Armut in Deutschland, zu der die Paulusgemeinde anlässlich des Jubiläums in die alte Zehlendorfer Dorfkirche eingeladen hatte. Von Politikern der im Bundestag vertretenen Fraktionen wollte er wissen, warum es Armut in einem solch reichen Land wie Deutschland gibt und was die Politik dagegen tun kann.

Doch es war zunächst Michael David, stellvertretender Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, der die zahlreichen Zuhörer in der kleinen Kirche auf das Thema einstimmte.

Armut, so David, sei nicht gleich Arbeitslosigkeit. Zwei Drittel der Hartz IV-Bezieher gingen arbeiten, erhalten aber unterstützende Leistung, weil der Lohn zum Leben nicht ausreiche. Drei Millionen Menschen in Deutschland arbeiteten für einen Stundenlohn von weniger als sieben Euro. Arbeit heiße auch nicht Sozialleistungsbezug, denn während letzterer sich auf einem gleichbleibenden Niveau halte, steige die Armut in Deutschland an. Rund 19 Prozent der Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht. Armut sei auch oft nicht auf den ersten Blick sichtbar, wie bei einer 72-jährigen Seniorin, von der David berichtete. Sie nehme  weite Wege auf sich, um Sonderangebote wahrnehmen zu können, weil die Rente nicht reicht, berichtet David. Oder der Teenager, der nicht mit auf Klassenfahrt gehen kann, weil trotz arbeitender Eltern das Geld dafür nicht reicht.

Private Fürsorge statt staatliche Unterstützung

Doch was kann der Staat tun gegen Armut? David nannte stichwortartig dafür die Voraussetzungen: Bildungsmöglichkeiten, eine Bezahlung, die zum Leben reicht, kommunale Angebote wie Bibliotheken und öffentlicher Nahverkehr, Hilfen zur Erziehung. „Das ist eine soziale Ausgabe, die Früchte trägt und in die Zukunft weist“, appellierte er an die anwesenden Politiker von SPD, Grünen und Linke. Ein Vertreter der CDU hatte kurzfristig abgesagt, ein Ersatz konnte nicht organisiert werden, bedauerte Steger. Denn schließlich hat die CDU derzeit im Bundestag die Mehrheit.

Private Fürsorge ersetzte heute mehr und mehr staatliche Fürsorge. „Es ist ein Skandal, dass das nötig ist“, fand David. „Wir haben auch eine Krise in der Gesellschaft und bei den Menschen. Die muss ebenso konsequent angegangen werden“, forderte David mit Hinweis auf die Finanzkrise, auf die die Politik schnell reagierte – und unter anderem mit finanziellen Mitteln, die aus dem sozialen Bereich abgezogen wurden.

Warum kommen wir beim Thema Armut nicht voran?, wollte Steger von Cansel Kızıltepe, Bundestagsmitglied der SPD, wissen. Weil es nicht öffentlich diskutiert wird, so Kızıltepes Antwort. In der öffentlichen Diskussion ginge es um die Leistungsfähigkeit des Landes, entscheidend seien Wachstum und Arbeitsmarktzahlen. Und die seien gut. Deutschland sei ein „Jobwunderland“, das die Finanzkrise gut überstanden hat. Allerdings zu einem hohen Preis, so die Bundestagsabgeordnete. Bezahlt mit einem massiven Anstieg des Niedriglohnsektors. 23,1 Prozent aller Beschäftigten sind von „Lohnarmut“ betroffen. Der folgen Kinderarmut und Altersarmut.

Falsche Politik verstärkt Armut

Schuld daran sei eine falsche Politik, sagte Katina Schubert, Landesgeschäftsführerin der Berliner Linken. Die Agenda 2010 habe dafür gesorgt, dass die Sozialsysteme in Deutschland nicht mehr existenzsichernd seien und sich der Niedriglohnsektor ausbreiten konnte. Ihre Lösung: Die Reicheren müssten stärker zur Finanzierung der Sozialsysteme herangezogen werden. „Das bedeutet nicht, dass sie arm werden“, war Schubert überzeugt. „Umverteilung ist angesagt – und zwar zügig“, so die Forderung der Linken.

Auch Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, sozialpolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, beobachtet ein Auseinanderdriften der Gesellschaft. Er fahre häufig mit dem Zug, berichtete er. Dabei konnte er beobachten, dass die Zahl der Menschen, die dort die Papierkörbe durchsuchen, steigt. Es seien immer mehr ältere und normal gekleidete Leute darunter.

Strengmann-Kuhn und Kızıltepe gaben sich auch selbstkritisch. Sie gestanden ein, dass ihre gemeinsame Politik der Agenda 2010 und die Hartz IV-Gesetze zu einem Anstieg der Armut geführt hatten. Diese Folgen wolle man korrigieren. „Wir brauchen eine flächendeckende Grundsicherung“, betonte der Grünen-Politiker. In der Großen Koalition habe man unter anderem den Mindestlohn ab 2015 beschlossen, erklärte Kızıltepe, die aber betonte, dass dies nur ein Kompromiss sei und nicht ausreiche.

Solidarität gefordert

Was es vor allem brauche, sei Solidarität, so David. Doch zweifelte er, angesichts der aktuellen Diskussion um Steuerhinterziehung, daran, dass die Menschen im Lande dafür bereit seien. In Deutschland herrsche die Auffassung, dass man hier viel Steuern zahle, doch man liege im europäischen Vergleich im Mittelfeld, betonte auch Strengmann-Kuhn

Am schwersten belastet seien dabei die Menschen mit mittlerem Einkommen, während die mit hohem Verdienst oft nicht mehr zahlen würden. Trotzdem gehe es in Diskussionen oft gegen Arme und sozial Benachteiligte. Vielmehr sollte es aber eine Koalition von Menschen mit mittleren Einkommen und Armen gegen die Reichen geben, fand der Grünen-Politiker.

Gegen diese „Geiz ist geil-Mentalität“, wandte sich auch Schubert. Unternehmen nehmen gerne die gute Infrastruktur und die gut ausgebildeten Fachkräfte in Deutschland – geben dies aber nicht an die Gesellschaft in Form von Steuern zurück. Deshalb forderte sie eine neue Steuerpolitik, die der verarmten öffentlichen Hand die Mittel zur Verfügung stellt, um gesellschaftliche und kulturelle Teilnahme zu ermöglichen.

„Man muss sich nicht verdienen, als Mensch behandelt zu werden.“

Eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft, eine Ausgrenzung von Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen, das beobachtet eine alleinerziehende Mutter. Ihrem Sohn sei es peinlich, dass sie ergänzend Hartz IV bekomme, weil sie nur eine Teilzeitstelle habe, berichtete sie. Dabei arbeite sie über ihre Wochenstunden hinaus, engagiere sich zudem ehrenamtlich. „Die Arbeit ist da. Warum gibt es kein Geld, um diese vernünftig zu machen?“, fragte sie. Und auch Michael David betonte, dass viel Hartz IV-Empfänger mitnichten zu Hause säßen und die Decke anstarrten, sondern sich engagierten – ohne dafür in irgendeiner Weise Unterstützung zu bekommen.

In der Armutsdiskussion dürfe man nicht vergessen, dass es um Menschenrechte gehe, betonte David. „Man muss sich nicht verdienen, als Mensch behandelt zu werden.“ Zu oft stünde die Frage nach einer Gegenleistung für die staatliche Unterstützung im Mittelpunkt. Das könne man zwar tun, „aber nicht um den Preis, dass man jemandem nichts mehr zu Essen gibt“, so David. In Deutschland müsse man davon wegkommen, dass die Arbeitsleistung, die Nützlichkeit für den Arbeitsmarkt den Wert eines Menschen bestimme und die finanzielle Unterstützung, die ihm dadurch zuteil wird, darin waren sich die Diskutanten auf dem Podium einig, ebenso wie darüber, dass es ein Mindesteinkommen für jeden Menschen geben müsse. Es bedürfe eines Sozialsystems, „in das alle einzahlen und alle bekommen“, so Strengmann-Kuhn. Schubert forderte eine Arbeitsmarktpolitik, die diesen Namen auch verdient.

(go)