Musa Yilmaz vor seiner Bäckerei, Foto: Daniela von Treuenfels

 

Erst die Wasserbetriebe, nun Vattenfall. Am Hindenburgdamm wird es bis 2026 Baustellen geben. Restaurants und kleine Läden kämpfen um Kunden und ihre Existenz.

„Wenn die da draußen mit ihrem schweren Gerät loslegen, wackeln hier drinnen die Gläser“, sagt Adriano Dormio, Mitinhaber des familiengeführten Restaurants La Malga am Hindenburgdam 96B. Dormio ist erstaunlich entspannt, obwohl innerhalb von zwei Jahren nun zum zweiten Mal eine große Baustelle vor seiner Tür ist. Schön sei das nicht, aber: „Das Schlimmste haben wir hinter uns.“

Das Schlimmste war die Baustelle von Oktober 21 bis Mai 22 vor dem Lokal. Die Wasserbetriebe erneuerten ihre Leitungen – nicht nur hier, sondern auch in den vielen kleinen Nebenstraßen in der ganzen Umgebung. In dieser von der Pandemie geprägten Zeit wollte Familie Dormio die Durststrecke durch einen Abholservice überbrücken. Doch Kunden, die ihre Bestellungen mit dem Auto abholen wollten, mussten lange und komplizierte Umwege in Kauf nehmen, Parken war ohnehin unmöglich geworden. Die Folge: die Umsätze gingen um die Hälfte zurück.

Hindenburgdamm Baustellen Höhe La Malga, Foto: Daniela von Treuenfels

Nun kommen wieder Gäste, trotz gestiegener Preise und schmaler werdenden Geldbeuteln. Adriano Dormio ist sicher: das La Malga haut so schnell nichts mehr um. Auch den Betrieb auf der Terrasse im kommenden Frühling sieht er nicht gefährdet. „Abends haben die Bauarbeiter Feierabend und unsere Gäste ihre Ruhe“ – so viel Gelassenheit kann wohl nur eine Familie mit Wurzeln im italienischen Apulien aufbringen.

Um die Ecke, an der Moltkestraße, sieht das schon ganz anders aus. Hier betreibt Phuong Doan ihr kleines vietnamesisches Restaurant. Ihr Standort gegenüber dem Charité Klinikum Benjamin Franklin bringt ihr vor allem ein auskömmliches Tagesgeschäft ein. An warmen Tagen sitzen die Leute draußen.

„Danke für die Frage!“, entgegnet die Wirtin auf das Interesse an den Folgen der jahrelangen Straßenbauarbeiten vor ihrem Restaurant. Sehr ärgerlich sei das alles, der Lärm und der Dreck vertreibe die Kunden vor allem im Sommer und beschere ihrem „Minh Huy“ Umsatzeinbußen von rund 20 Prozent. Einem weiteren Sommer mit Baustellenlärm sieht sie mit Sorge entgegen.

Der Hindenburgdamm ist für Gewerbetreibende kein einfaches Pflaster. Die vergangenen Jahre waren geprägt von Schließungen teils jahrzehntelang bestehender Betriebe. Zuletzt hat der „Familienbäcker“ Hillmann nach 91 Jahren hingeschmissen. Personalmangel und steigende Preise haben dem Traditionsbetrieb vor allem zu schaffen gemacht, aber die Baustellen über einen langen Zeitraum haben auch ihren Teil zur unternehmerischen Entscheidung beigetragen. Über einen langen Zeitraum war die Bäckerei für Autofahrer nicht mehr erreichbar, sinkende Umsätze waren die Folge.

Hindenburgdamm Baustellen Ecke Flotowstraße, Foto: Daniela von Treuenfels

Lange Jahre kämpfte der Einzelhändler Bosse um seine Existenz. Hier gab es alles von Schrauben und Nägeln über das Bügeleisen bis zum Blumentopf. Irgendwann kam Obi in der Goerzallee, dann der Onlinehandel. Irgendwann war Bosse weg.

Es folgten weitere Geschäftsaufgaben: ein Buchladen, ein Schreibwarenladen, ein Zeitschriftengeschäft. Teilweise stehen die Geschäftsräume noch immer leer. Wer hier bleibt oder sich neu ansiedelt, verkauft Dinge, die die Leute (noch) nicht im Internet bestellen: Arzneimittel, Blumen, Döner, Kaffee und Gebäck sowie Lebensmittel. Oder der Laden gehört zu einer großen Kette wie Edeka oder Rossmann.

In den letzten Monaten haben einige Besitzer ihre Geschäfte neu eröffnet. Mit dem „koordinierten Vorgehen“ von Bezirk, Wasserbetrieben und Vattenfall bei der Planung von Bauarbeiten haben sie allerdings nicht gerechnet.

Warum folgt auf ein Großvorhaben das nächste?


Der zuständige Stadtrat beantwortet diese Frage unter Verweis auf die Informationen, die Vattenfall und die Wasserbetriebe auf ihren Internetseiten bereit halten:

Vattenfall

Zum Erreichen der Klimaschutzziele des Landes Berlins ist der Ausbau der Stadtwärmeversorgung ein wesentlicher Beitrag. Dazu plant die Vattenfall Wärme eine Erweiterung des Stadtwärmenetzes mit dem Bau einer Versorgungsleitung zwischen dem Heizkraftwerk Lichterfelde und dem Händelplatz über die gesamte Länge des Hindenburgdammes. Das Bauvorhaben, mit einer Trassenlänge von circa drei Kilometern und insgesamt 13 Bauabschnitten, soll in der Bauzeit von Ende 2022 bis Mitte 2026 realisiert werden.

Ein Bauabschnitt führt über den Uferweg vom HKW Lichterfelde bis zur Emil-Schulz-Brücke. Alternativen zur Nutzung des Uferweges haben sich aufgrund der Belegung des öffentlichen Straßenlandes mit anderen Infrastrukturen als nicht realisierbar dargestellt.

Die Baumaßnahme am Uferweg findet zwischen Juni 2023 und voraussichtlich Dezember 2024 statt. Bauvorbereitende Maßnahmen beginnen bereits am 22.02.2023 und dauern circa zwei Wochen an. Zur Umsetzung des Vorhabens kommt es bedauerlicherweise zu temporären Einschränkungen bis hin zu Vollsperrung des Uferwegs zwischen Königsberger Straße und der Rohrbrücke über den Teltowkanal (Kleingartenanlage Zukunft) sowie zur Sperrung des Spielplatzes am Uferweg und des ehemaligen Sportplatzes Wiesenbaude. Diese Sperrungen sind aus Gründen der Arbeitssicherheit und zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger unerlässlich. 

Im Zuge der Verlegung der neuen Fernwärmeleitungen ist die Fällung von drei größeren und ca. sieben mittelgroßen Bäumen im Randbereich des Uferweges unumgänglich.  Vattenfall Wärme wird als Kompensation im Bereich des Uferweges gemeinsam mit dem Bezirksamt Steglitz Zehlendorf 50 Baumpflanzungen sowie weitere 50 Baumpflanzungen im nachbarschaftlichen Umfeld vornehmen, um das Grüne Gesicht des Gebietes zu erhalten und den Eingriff in die Grünanlage bestmöglich auszugleichen.
Die Netzverstärkung Hindenburgdamm ermöglicht uns weitere Wärmeleistung für unsere Kunden bereit zu stellen und trägt zur Dekarbonisierung im Rahmen der Anlagentransformation bei. Darüber hinaus wird die Versorgungssicherheit erhöht und es können weitere Kund:innen an das Berliner Stadtwärmenetz angeschlossen werden. Durch die Verstärkung des Stadtwärmenetzes wird die Basis für den Anschluss von 39 Megawatt – dies entspricht circa 11.000 Wohneinheiten – geschaffen. Damit einher geht eine Reduzierung der CO2-Emissionen um 11.000 Tonnen pro Jahr ab 2026.

https://wärme.vattenfall.de/energie-news/netzverstaerkung-hindenburgdamm/

Wasserbetriebe

Die Berliner Wasserbetriebe sanieren die etwa 100 Jahre alte Abwasserdruckrohrleitung DN 1000 sowie die Kanal- und Trinkwasseranlagen im Hindenburgdamm. Die Baumaßnahmen erfolgen im Bereich zwischen Wolfensteindamm und Königsberger Straße in Berlin Steglitz-Zehlendorf, OT Lichterfelde.

Die Erneuerung der Abwasserdruckrohrleitung findet in fünf Bauabschnitten und abgestimmt mit den Bauvorhaben der Vattenfall Wärme Berlin AG und dem Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf statt. Gearbeitet wird bereichsweise im Mehrschichtsystem: montags bis freitags von 7 bis 22 Uhr sowie samstags von 7 bis 16 Uhr in Normalschicht. Das verkürzt die Bauzeit und reduziert die Dauer notwendiger Verkehrseinschränkungen auf ein Minimum.

Für den 1. Abschnitt BV 20/StZe-0028 im Hindenburgdamm von Bäkestraße bis Königsberger Straße ist eine Bauzeit von Juli 2022 bis Juli 2023 geplant. Der Ausbau der Altleitung und Wiedereinbau der neuen Leitung erfolgt in gleicher Trasse (im Mittelstreifen des Hindenburgdamms).

Im 2. Abschnitt BV 18/12-00402 in der Königsberger Straße soll die Erneuerung des betriebsnotwendigen Knotenpunkts der Abwasserdruckleitungen erfolgen. Der Baubeginn ist aktuell im Anschluss an den 1. Bauabschnitt geplant (Juli 2023 bis Juli 2024).

Den 3. Abschnitt 21/StZe-0341 im Wolfensteindamm beabsichtigen wir von Januar 2023 bis Dezember 2023 umzusetzen. Neben Arbeiten an unseren Kanälen und Trinkwasserleitungen werden in diesem Abschnitt 480 Meter Abwasserdruckleitung DN 1000 erneuert.

Durch eine geplante Baumaßnahme der Vattenfall Wärme Berlin AG sind weitere Arbeiten an Anlagen der Berliner Wasserbetriebe im 4. Abschnitt BV 21/StZe-0198 im Hindenburgdamm zwischen Moltkestraße und Tietzenweg für einen Bauzeitraum von November 2023 bis November 2024 notwendig. Vorgesehen sind die Auswechslung von etwa 240 Metern Abwasserdruckleitung DN 1000, Kanalarbeiten sowie die Erneuerung der Trinkwasserleitungen.

Falls Sie zu einer anderen Baustelle Fragen haben, schreiben Sie uns service@bwb.de oder rufen Sie uns kostenfrei unter 0800.292 7587 an.

https://www.bwb.de/de/baustelleninformationen.php

 

Und Urban Aykal betont, dass die Baumaßnahmen „koordiniert“ ablaufen, „auch wenn das für Bürgerinnen und Bürger nicht immer so aussehen mag“. So lägen Leitungsstränge beispielsweise nicht unter derselben Fahrbahn. „Das heißt, dass zunächst die eine Fahrbahnseite für die eine Leitungsverwaltung aufgegraben werden muss, anschließend ist die andere Fahrbahnseite dran. Der Deckenschluss wird in diesen Fällen nur provisorisch vorgenommen. Erst nach endgültiger Fertigstellung erfolgt der endgültige Deckenschluss der Fahrbahndecke.“

Wann eine Straße „endgültig“ fertig ist, ist für Laien nicht erkennbar. Uneingeweihte gehen auch davon aus, dass alles fertig ist, wenn die Baustelleneinrichtung abgeräumt und die Straße wieder befahrbar ist.

Baustelle vor der Bäckerei von Musa Yilmaz, Foto: Daniela von Treuenfels

Musa Yilmaz hat dieser naive Glaube kalt erwischt. Am 16. Dezember vergangenen Jahres, sagt er, habe er den Vertrag für sein neues Café unterschrieben. „Das war ein Freitag. Am Montag wurde die Bushaltestelle vor meinem Laden verlegt, dann kamen die Absperrungen.“ Yilmaz verkauft türkisches Gebäck und einige kalte und warme Getränke. „To go“ war sein Geschäftsmodell. Er wohnt in der Straße, kennt sich aus. Den Standort an der Haltestelle hielt er für optimal, nun ist er verzweifelt. Niemand kaufe bei ihm noch schnell einen Kaffee oder eine Kleinigkeit zu essen, wenn die Bushaltestelle 200 Meter weit entfernt ist. „Ich habe drei Kinder, und ich weiß nicht, wie ich das ein Jahr lang durchhalten soll.“

Ein Stück weiter in der Hausnummer 61 betreibt Özkan Polat seinen weithin bekannten und beliebten MS Gemüsekebap. Wegen der Baustelle ist es für autofahrende Kunden nicht mehr möglich kurz anzuhalten und ein Menü mitzunehmen. Die Folge: der Umsatz sei um 30 Prozent eingebrochen. Waren es vorher 70 Kunden am Tag, kämen derzeit rund 40 Leute in den Laden.

Nur ein paar Schritte sind es von hier bis zur Kreuzung Wolfensteindamm / Gardeschützenweg / Hindenburgdamm und Gélieustraße – der Knotenpunkt ist nach rund einem Jahr ohne Baustelle wieder ein Nadelöhr. Der Verkehr zwängt sich einspurig und in Schlangenlinien in alle Richtungen. Hier, am Hindenburgdamm 70, hat Müslüm Yasar seit 25 Jahren seine kleine Schneiderei. Von Änderungen bis Maßanfertigung macht der gelernte Schneider so ziemlich alles. Sein Umsatz, sagt er, sei mit den Baustellen um 70 Prozent eingebrochen. Seine Kundschaft bestehe zu einem großen Teil aus älteren Menschen, die das Auto nutzen oder den Bus, der genau vor seinem Geschäft – hielt. Der Bus hält nun 200 Meter entfernt am Wolfensteindamm, Parkplätze gibt es keine mehr. Yasar ist frustriert und auf die finanzielle Unterstützung seiner Tochter angewiesen: „Sie hilft mir ein wenig bis das alles hoffentlich einmal vorbei ist.“

Die Besitzer der Blumenläden rechts und links von ihm haben bereits im vergangenen Jahr aufgegeben. Die neuen Inhaber, beide mit asiatischen Wurzeln, blicken wenig optimistisch in die Zukunft. Wie es läuft? „Richtig Scheiße“, kommt es desillusioniert hinter dem Verkaufstresen hervor.

Hindenburgdamm Baustellen Gardeschützenweg Blumenladen, Foto: Daniela von Treuenfels

Hunthieng Trans Geschäft ist direkt an der Bushaltestelle. Wer aussteigt, kommt an Töpfen und Sträußen nicht vorbei. Das bunte Vergnügen hat in der Vergangenheit viele Vorbeikommende animiert, noch schnell einen Bund Tulpen, einen Zweig oder ein kleines Mitbringsel zu kaufen. Damit ist es vorbei. Im September, erzählt Tran in gebrochenem Deutsch, hat er den Laden übernommen. Im Dezember wurde die Haltestelle verlegt. Wie es mit seinem Geschäft weitergehen soll, weiß er nicht.

Der Blumenverkäufer steht einsam in seinem Geschäft wie die personifizierte Ratlosigkeit. Kaum zu verstehen, aber sehr energisch fragt er: 2026 soll alles fertig sein? Wenn das das Versprechen sei, dann dauere es bis mindestens 2027. Ohne Zweifel ist der Mann ein echter Berliner.

 

Daniela von Treuenfels