Ursprung der Jugendbewegung „Wandervogel“ in Steglitz

Ursprung der Jugendbewegung „Wandervogel“ in Steglitz

Yvonne Schwarz / Semiramis Photoart

 

 

„Gar lustig waren sie anzuschauen – Mit Rucksack, Stock und Laute.“ Eine Gedenktafel an dem Einkaufszentrum Das Schloss am U-Bahnhof Rathaus Steglitz erinnert an den Wandervogel, dessen Ursprünge hier im Bezirk liegen. Wenn heute freitags junge Menschen unter dem Label „Fridays for Future“ auf die Straße gehen, wird oft vergessen, dass bereits vor über 120 Jahren eine Jugendbewegung entstand, die sich durch eine enge Verbindung mit dem Naturschutz auszeichnete.   

„Wer hat euch Wandervögeln / Die Wissenschaft geschenkt / Dass ihr auf Land und Meeren / Nie falsch den Flügel lenkt / Daß ihr die alte Palme / Im Süden wieder wählt, / Daß ihr die alten Linde / Im Norden nicht verfehlt!“ heißt es auf einem Grabstein auf dem Dorffriedhof Dahlem. Dem Mythos nach soll von jener Grabinschrift die Benennung von der Jugendbewegung Wandervogel, die sich 1901 im Ratskeller des Rathauses von Steglitz – damals einer Kleinstadt mit 25.000 Einwohnern – als Verein für Jugendfahrten konstatierte. An der Stelle, wo dies einst stand und heute eine Shopping Mall protzt, erinnert eine Gedenktafel an die offizielle Konstatierung am 4. November 1901 als Verein. Bereits fünf Jahre zuvor hatte der Jurist Hermann Hoffmann-Fölkersamb mit seiner Wanderleidenschaft eine Vorlage geboten.

Die Gründung eines solchen Vereins lag regelrecht in der Luft. Es war die Zeit, in der auch Lord Baden-Powell die Boyscout-Bewegung begründete, als deren deutscher Ableger 1911 der deutsche Pfadfinderbund entstand. Gleichzeitig ist es die Zeit der Reformbewegungen, mit denen das Programm des Wandervogels bzw. seiner Abspaltungen korrespondiert. Die Ertüchtigung des Körpers, Freikörperkultur (FKK), der Verzicht auf Alkohol und Nikotin sind ebenso wie die Romantisierung der Natur und „Heimat“ Bezugspunkte. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Mode – weg von der Korsettmode zu Gunsten einer praktischen Kleidung. Während die Gebrüder Grimm einst Volksmärchen sammelten, so sammeln die Wandervögel deutsches Volksliedgut. Ein Teil davon wird im bekannten Liederbuch Der Zupfgeigenhansl (1909) abgedruckt. Das Wandern, Sich-gegenseitig-Vorlesen und gemeinsame Musizieren schaffen ein Gemeinschaftsgefühl – und einen Ort ohne Eltern für die anfänglich rein männlichen Bünde aus bürgerlichen Haushalten. Es läßt sich auch als Initiierungsphase in die Erwachsenenwelt bzw. Loslösungsprozess vom Elternhaus lesen.

Um 1905 tauchten dann auch die ersten Wanderschwestern auf, was in den Kreisen des Wandervogels nicht unumstritten ist. So ist die rein männliche Gemeinschaft der ursprünglichen Wandervögel ein homoerotisches Ideal. Gerade für den Schriftsteller Hans Blüher, dessen Erinnerungen an den Wandervogel, eine sehr wichtige Rolle in der modernen Rezeption spielen, ist der Wandervogel ein Bund, an dem er seine Ideale und Vorstellungen von Homosexualität festmacht. Auch in anderen Publikation – z.B. Europas erster Schwulenzeitung Der Eigene wird der Wandelvogel wiederholt zum Thema von Artikel und Prosa.

Aber auch die Reformpädagogik schaut auf den Wandervogel und versucht neue Pädagogik in den Reihen dieser Jugendbewegung zu etablieren – vorrangig Ludwig Gurlitt. Der Wandervogel ist aber mehr als das – es ist der Beginn einer Jugendbewegung und das Vorbild von (allen) späteren Jugendverbänden – von der Hitlerjugend (HJ), den sozialistischen Falken, über die Naturfreundejugend bis zur Freien Deutschen Jugend (FDJ). Alle diese Jugendverbände haben als Vorläufer jenen Verein aus Steglitz, der bereits 1914 auf 40.000 Mitglieder anwuchs.

Der Wandervogel ist dabei – wie sich schon andeutet – ein sehr vielschichtiges Thema und ein Kristallisationspunkt für viele Strömungen und Entwicklungen. Einer der wesentlichen Aspekte ist dabei sicherlich sein Bezug zur ökologischen Bewegung.

Im Wandervogel herrscht eine romantisiertes Naturbild vor. Bis heute lassen sich ja generell in der deutschsprachigen Ökologiebewegungen Spuren der deutschen Romantik und ihrer Verklärung der Natur wiederfinden. In Verbindung mit dem ebenfalls sehr stark in der deutschen Gefühlswelt verankerten Liebe zur „Heimat“ ist ein Teil des Wandervogels auch anfällig für Parolen à la „Naturschutz ist Heimatschutz“. Ein Teil der recht heterogenen Bewegung wird später zum Rekrutierungspotential des Nationalismus und der konservativen Revolution.

Ein wichtiges Verbindungsglied zwischen dem Wandervogel, der Ökologiebewegung und der konservativen Revolution stellt der Autor Ludwig Klages dar. Seine Rede Mensch und Erde beim Treffen im Jahr 1913 wurde zu einer der wichtigsten Programme der sich damals konstituierenden Ökologiebewegung. Der Ort, der erste Freideutsche Jugendtag in Hohenmeißen, und das Publikum – nämlich Wandervögel – verdeutlichen die enge Verbindung zwischen der Jugend- und der Ökologiebewegung.

Vor diesem Hintergrund ist die Würdigung des Wandervogels eine zwiespältige Angelegenheit. So revolutionär und emanzipatorisch die Grundgedanken waren, so bildete er ebenso den Nähboden für reaktionäre Strömungen wie den Nationalsozialismus. Dennoch finden sich gleich an mehreren Stellen im Bezirk (unkritische) Würdigungen jener ersten Jugendbewegung.
Foto: Yvonne Schwarz / Semiramis Photoart

Es handelt sich um eine leicht überarbeitete Fassung eines, ursprünglich in dem Umweltmagazin Rabe Ralf publizierten Beitrages.

 

 

Dr. Maurice Schuhmann
Website: https://www.maurice-schuhmann.de
Autorenseite bei FB: https://www.facebook.com/Dr.phil.Schuhmann
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Anm. d. Red.
Dr. Schuhmann ist promovierter Politikwissenschaftler
und Autor des philosophiegeschichtlichen Städteführers
Geistreiches Berlin und Potsdam“ (Bäßler Verlag 2021).

Der Städteführer ist erhältlich über:
https://www.baesslerverlag.de/p/geistreiches-berlin-und-potsdam

 

 

 

 

 

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