Kommentar: Die allerletzte Boomer-Welle

Kommentar: Die allerletzte Boomer-Welle

Kompetent und solidarisch – der demografische Wandel verlangt Höchstleistungen von der Gesellschaft. Foto: Africa Studio

 

In 20 Jahren werden die geburtenstärksten Jahrgänge, die Deutschland je hatte, um die 80 Jahre alt sein. Diese große Gruppe bedarfsgerecht zu versorgen, wird ein Kraftakt für die jüngeren Generationen werden. Er ist nur zu schaffen, wenn alle in der Gesellschaft das Prinzip der Solidarität verinnerlicht haben. Wer morgen Hilfe benötigt, sollte heute Unterstützung geben.

Zwischen 1961 und 1966 wurden jährlich über 1,3 Millionen Kinder geboren. Sie bilden damit die Spitze der sogenannten Boomer-Generation, und das Ende der „geburtenstarken Jahrgänge“ vor dem sogenannten Pillen-Knick.

Mit ihrem Älterwerden setzt diese Generation einen Trend fort, wie die Bundeszentrale für politische Bildung es zusammenfasst: „Zwischen 1970 und 2021 stieg die Zahl der 80-Jährigen und Älteren von 1,2 auf 6,1 Millionen und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung erhöhte sich von 1,9 auf 7,3 Prozent. Die Zahl der Menschen ab 80 Jahren wird noch bis etwa 2030 bei rund 6 Millionen liegen. Ab Anfang der 2030er-Jahre wird sie dann für etwa 20 Jahre kontinuierlich zunehmen und im Jahr 2050 auf gut 9,1 Millionen steigen (11,1 Prozent).“

Die Kohorte setzt damit etwas in Gang, was sie schon ein Leben lang begleitet: Sie bringt Systeme ins Wanken. Sie sorgte zu Beginn der 1970er Jahre für überfüllte Klassenzimmer, 40 Kinder pro Gruppe waren normal. Später prägten die Boomer den Begriff der Massenuniversität, um sich dann nach abgeschlossener Ausbildung einer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gegenüber zu sehen, die heutigen Berufseinsteigern völlig fremd ist.

Als nächstes wird die „Boomer-Welle“ das Rentensystem treffen. Weil notwendige tiefgreifende Reformen unterblieben sind, werden die Folgen für die Jüngeren erheblich sein. Schon jetzt werden Defizite der Rentenversicherung aus dem Bundeshaushalt gestopft, 115 Milliarden Euro waren es 2021 – das sind 20 Prozent des gesamten Haushaltsbudgets. Wenn die Rentenbeiträge stabil bleiben sollen, muss in Zukunft noch mehr Steuergeld in die Rentenkasse fließen. Diese Doppelbelastung engt den Gestaltungsspielraum für die junge Generation massiv ein.

Die Rente ist ein Beispiel für die Unfähigkeit der Politik, in Dekaden zu denken. Ähnlich wie in der Klimapolitik agieren verantwortliche Entscheider in Parteien und Parlamenten wie Kinder, die nur zwei zeitliche Dimensionen kennen: Das Jetzt und das Nichtjetzt.

Was die Kranken- und Altenpflege angeht, hechelt Deutschland im Jetzt dem Gestern hinterher. Mit großem Aufwand werden, bislang wenig erfolgreich, ausländische Fachkräfte angeworben. Es wird diskutiert über attraktive Arbeitsbedingungen, bessere Ausbildung, höhere Löhne und mehr Zeit für Patienten. Das ist zweifellos wichtig und richtig, ist aber eine Reaktion auf eine Notlage, die seit mindestens zwei Jahrzehnten absehbar war. Im Jetzt gibt es personelle Lücken, die notdürftig gestopft werden.

Das wird schon in wenigen Jahren nicht mehr funktionieren – viele Pflegefachkräfte der Boomer-Generation werden aus dem Beruf ausscheiden. Im Nichtjetzt werden Pflegekräfte immer weniger und Hilfebedürftige immer mehr. Das System kollabiert, weil die Instrumente des Jetzt an ihre Grenzen kommen.

Von einer vorausschauenden Politik muss man erwarten können, dass sie Impulse der Wissenschaft, wie Forscherin Katja Boguth sie im Interview mit den Stadtrand-Nachrichten formuliert, aufnimmt und ernsthaft diskutiert. Wie im Bildungsbereich und vielen anderen Sektoren müssen Politik und Verwaltung auf die Qualifizierung derjenigen setzen, die da sind. Diese Fachkräfte müssen in der Lage sein, Konzepte und Strukturen zu entwickeln, die Ressourcen und Kompetenzen bündeln – im Pflegebereich wird die Anleitung von Laien eine große Bedeutung haben.

Gleichzeitig muss in soziale Projekte und Initiativen investiert werden. Die bisherige Sparpolitik ist kontraproduktiv. Professionelle Strukturen bestehend aus Angehörigen der Gesundheitsberufe und der Sozialarbeit bilden das Grundgerüst für eine kompetent handelnde Gesellschaft und damit für die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte.

Jeder und jede Einzelne ist gefordert. Bezogen auf das Nichtjetzt, die Zukunft, bedeutet das: Wer im Alter Hilfe annehmen möchte, muss vorher geben. Sich schon heute nach dem passenden Ehrenamt umzuschauen, ist sicher kein Fehler. Oder im Kleinen den Kitt der solidarischen Gesellschaft formen – und sich mal im Haus oder in der Nachbarschaft umhören, wer ein wenig Unterstützung gebrauchen könnte.

Wir alle haben es in der Hand, die Wucht der allerletzten Boomer-Welle abzumildern. Wenn wir in 20 Jahren fit sein wollen für diese gigantische Aufgabe, muss die Politik jetzt die Weichen stellen. Bürgerinnen und Bürger müssen sich heute darauf einlassen dazuzulernen. Wir schaffen das – sowohl heute als auch in der Zukunft.

 

Daniela von Treuenfels

 

Zum Interview mit Pflegewissenschaftlerin Katja Boguth

Den Bericht zum Thema Zukunft der Pflege lesen Sie hier

 

 

 

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